Auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm hat die CDU den Entwurf einer übergreifenden "Grundwerte-Charta" in Berlin vorgestellt. Er soll nun in die weitere Diskussion mit den Mitgliedern gehen und "ein richtungsweisender Schritt" für die Arbeit mehrerer Fachkommissionen sein. So drückt es Parteichef Friedrich Merz aus.
Mit der Charta soll sich am 15. Juni der Vorstand befassen, beschließen soll sie dann der Bundesparteitag im September in Hannover. Das neue Grundsatzprogramm soll bis 2024 erarbeitet werden. Der Prozess war nach der Unions-Niederlage bei der Bundestagswahl angestoßen worden.
Merz sagte, die CDU sei die einzige politische Kraft, die Beständigkeit und Wandel nicht als unüberbrückbare Gegensätze verstehe, sondern als zwei Seiten einer Medaille. Sie sehe das Erreichte nicht als Ballast der Vergangenheit. Zugleich gelte: "Wenn die Welt im Wandel ist, dann darf die CDU nicht stehen bleiben." In der aktuellen Krise nach Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine werde deutlich, dass Freiheit und Sicherheit einander bedingten.
Einer der Grundwerte der Partei ist seit ihrer Gründung die Verbundenheit zum Christentum. Die CDU und ihre Schwesterpartei CSU tragen das Christliche in ihrem Namen. Ob das noch zeitgemäß ist, darüber debattiert die Partei. Und die Frage stellt sich immer wieder: Ist Religion in einer modernen Volkspartei noch up to date?
Ja, meint der Politikwissenschaftler Uwe Jun von der Universität Trier. Der Forschungsschwerpunkt des Professors ist das politische System der Bundesrepublik Deutschland. "Das Christentum ist Teil der europäischen und westlichen Kultur und insofern wird es aufgenommen von Parteien – zum Beispiel den Unionsparteien", sagt er im Gespräch mit watson.
Dass christliche Werte zur DNA der Unions-Parteien gehören, ergibt sich aus dem Gründungsgedanken, meint der Politikwissenschaftler Oliver Hidalgo. Er lehrt an der Universität Regensburg und einer seiner Forschungsschwerpunkte sind Demokratie und Religion.
Hidalgo sagt:
Seither habe sich die Welt aber stark verändert, meint Hidalgo. Durch die säkularisierte und pluralistische Gesellschaft in Deutschland habe sich auch die CDU verändert: Die Partei ist heute weniger konservativ und ihre Mitglieder müssen nicht dem christlichen Glauben anhängen oder eine Konfession haben. Für die Partei gehe es jetzt darum, ihre christliche Tradition nicht abzustreifen und gleichzeitig die Partei auch für Nicht-Gläubige und Andersgläubige zu öffnen.
Natürlich gebe es immer wieder die Debatte, jüngst aufgeworfen durch den Mainzer Historiker Andreas Rödder, ob das Christliche im Namen Wählergruppen abschrecken könnte, sagt Jun. Für die Partei sei wichtig, dass die christlichen Werte ausbuchstabiert und zeitgemäß angegangen werden. Der Politikwissenschaftler geht davon aus, dass genau das im neuen Grundsatzprogramm geschehen werde.
Klar sei aber auch, dass der Ruf der Kirche – gerade der katholischen – in der letzten Zeit nicht besonders gut war. "Das versuchen die Unionsparteien aber losgelöst von ihrem eigenen Werteverständnis zu betrachten", sagt Jun. Westliche Gesellschaften sind stark vom Christentum geprägt. Deshalb könne es aus Sicht von Jun sein, dass Menschen christliche Werte für wichtig erachten und trotzdem nicht der Institution Kirche angehören wollen.
Die Unionsparteien sind im Übrigen nicht die einzigen großen deutschen Parteien, in denen Religion und religiöse Werte eine wichtige Rolle spielen. Auch bei den Grünen und der SPD gibt es viele Verflechtungen. "SPD und Grüne haben die christlichen Werte angesichts der eigenen Parteihistorie nur nicht so stark ins Zentrum gerückt wie die Union", sagt Jun.
Dass Religion in Parteien wie der Union nach wie vor vorkommt, sei nicht schlimm, meint Politikwissenschaftler Hidalgo. Wichtig sei es aber, "dass am Ende niemand wegen des eigenen Glaubens oder Unglaubens diskriminiert oder bevorzugt wird und die jeweiligen Auffassungen friedlich koexistieren können." Aus Sicht von Hidalgo zeige die weite Verbreitung von Religion in der deutschen Parteienlandschaft, dass Glaube zu keiner politischen Einstellung verpflichte, sondern unterschiedlich wirken könne.
Wie wichtig es ist, Parteien in einem säkularen Staat von Religion zu trennen, käme auf die Definition des Begriffes säkular an, meint Hidalgo. Im Gegensatz zu Frankreich habe Deutschland nämlich ein religionsfreundliches System. Hier gäbe es keine "Schwierigkeiten, eine öffentlich-politische Dimension und Symbolik der Religionen zu akzeptieren".
Hidalgo sagt:
Was Demokratien allerdings gemein hätten, sei die Akzeptanz von Berührungspunkten zwischen Staat und Religion. Religionsgemeinschaften unterstützen beispielsweise die rechtliche Grundordnung im jeweiligen Land, "anstatt aus ihrem Glauben politische Autorität und Zwangsgewalt abzuleiten." Im Gegenzug toleriert der Rechtsstaat die Religionsfreiheit und mischt sich nicht in die Verfassung der Gemeinden ein.
Diese Kooperation von Kirche und Staat führt in der deutschen Debatte immer wieder zu Streitpunkten. Trotz der eigentlichen Trennung zieht in Deutschland nämlich der Staat die Steuern für die katholische und die evangelische Kirche ein.
Es gebe nach wie vor eine gewisse Nähe zwischen Kirche und Staat, sagt Jun. "Das hängt damit zusammen, dass das Christentum als kulturelle Grundlage des europäischen und westlichen Selbstverständnisses dient", fasst Uwe Jun zusammen. Aus diesem Grund gebe es weiterhin diese informelle Nähe.
Hidalgo wirft die Frage auf, ob nicht auch andere religiöse Gemeinschaften gleichgestellt werden sollten. Diese Debatte sei wichtiger als die Frage danach, ob die Kooperation von Kirche und Staat noch zeitgemäß sind.
Hidalgo sagt:
Längst ist Deutschland nämlich kein Land mehr, in dem die Bürgerinnen und Bürger vor allem dem christlichen Glauben anhängen. In diesem Jahr ist die Zahl der Kirchenmitglieder auf einen Tiefstand gefallen: Nicht einmal mehr 50 Prozent der Deutschen sind Teil einer katholischen oder evangelischen Gemeinde.
Es gibt aber viele Menschen anderer Glaubensrichtungen in Deutschland, die noch Teil ihrer Gemeinde sind. Könnte es eines Tages also auch eine Volkspartei mit beispielsweise einem I im Namen geben? Wohl nicht, aber Parteien mit anderer religiöser Prägung könnten Platz in der öffentlichen Debatte einnehmen.
Parteienforscher Uwe Jun sagt:
(Mit Material von dpa)