Es ist der Abend vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist zu Gast bei der ARD-Sendung "Maischberger". Er ist sichtlich nervös, wirkt abwesend. Es falle ihm schwer, der Debatte zuzuhören, gibt er zu. Ideologie aufgeladen über Sanktionen zu streiten. Er spricht von einer klaren aggressiven Situation, durch Russland herbeigeführt. Von einem bevorstehenden Angriffskrieg, wie ihn Europa seit Jahrzehnten nicht gesehen habe.
In Habecks Gesicht steht die Angst geschrieben. Moderatorin Sandra Maischberger fragt nach: "Hat der Bundeskanzler die Auffassung geteilt, dass Diplomatie nicht mehr viel bewirken kann?" Wir erinnern uns: Eine Woche vor Kriegsausbruch haben diverse Länderchefs, darunter Kanzler Olaf Scholz (SPD) den russischen Präsidenten Wladimir Putin im Kreml besucht. Diplomatie an einem absurd langen Tisch – heute wissen wir: ohne Erfolg.
Auf Maischbergers Frage antwortet Habeck: "Natürlich müssen wir immer wieder versuchen, auf die Diplomatie zu setzen. Aber sie haben es gerade gesagt: Die anberaumten Gespräche auf allen Ebenen sind abgesagt worden." Gespräche seien auf russischer Seite nicht gewollt. Habeck sollte recht behalten.
Mittlerweile ist klar: Zum Zeitpunkt des Interviews bei "Maischberger" wusste Habeck bereits von den Plänen Russlands. Im Ministerium sei am frühen Abend des 23. Februar 2022 Besuch aus der US-Botschaft eingetroffen, sagte Habeck dem "Stern". Dort führt der Wirtschaftsminister aus:
Dass Russland in die Ukraine einmarschieren wird, hatte sich abgezeichnet. Spätestens, als Putin drei Tage vor dem Einmarsch das Dekret unterschrieben hat, das die Separatistengebiete in der Ostukraine als Volksrepubliken anerkannte. Schon vorher hatte er seine Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Russland sprach währenddessen von "provokativen Spekulationen" und "Hysterie".
Und auch außerhalb des Kremls gab es zu dieser Zeit noch immer Politiker:innen, die sicher waren, dass Russland nicht in die Ukraine einmarschieren würde. Eine von ihnen, Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht. In der ARD-Talkshow "Anne Will" erklärte sie kurz vor dem Kriegsausbruch, Putin sei kein verrückter Nationalist, den es berausche, Grenzen zu verschieben.
Doch, ist er. Das zeigte sich nur wenige Tage später.
Auch Linkenpolitikerin Sevim Dağdelen hat bis wenige Tage vor Kriegsausbruch die westliche Expansionspolitik nach Osten angeprangert. Noch heute fordern beide Polit-Promis einen schnellen Frieden – ohne auf den Aspekt der Gerechtigkeit einzugehen.
Denn für die Ukraine dürfte dieser angestrebte schnelle Frieden eine Teilung bedeuten. Eine russische Besetzung, in Teilen eine Aufgabe der Souveränität. Womöglich könnten weitere Verbrechen an der Menschlichkeit in den eingenommenen Gebieten folgen. Genozid.
Alt-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) sprach im Januar 2022 von einem "Säbelrasseln". Allerdings nicht von Russland ausgehend, sondern vom Westen. Und zwar, indem dort über Waffenlieferungen zur Unterstützung der Ukraine gesprochen wurde.
Und auch so mancher Militärexperte hat die Lage offensichtlich unterschätzt. So erklärte Oberst a.D. Wolfgang Richter drei Tage vor Kriegsausbruch dem ZDF, dass es Putin nur um Sicherheitsgarantien ginge. Dass ein Einmarsch Russlands in die Ukraine absolut "unvernünftig" wäre.
Ganz anders hatte CDU-Politiker Norbert Röttgen die Lage Anfang Februar 2022 bewertet. Er sprach bereits damals von einem Krieg, den Russland in der Ukraine führt – und von westlichen Waffenlieferungen, um der Ukraine bei der Selbstverteidigung beizustehen.
Krieg Anfang Februar, wenn der Einmarsch erst Ende Februar war? Ja. Denn Russland hat die Ukraine nach der Annexion der Krim nie verlassen. In den Separatistengebieten, die Putin im Februar 2022 zu Volksrepubliken gemacht hat, war es seit 2014 nicht mehr ruhig. Mehr als 13.000 Menschen sind dort schon vor der großen Invasion 2022 in Kampfhandlungen gestorben.
Bei einem Besuch in der Ukraine hat Robert Habeck – damals noch Co-Vorsitzender der Grünen – bereits im Mai 2021 Defensivwaffen für die Ukraine gefordert. Weder bei der damaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch beim Koalitionspartner SPD kam der Vorstoß gut an. Und auch nicht bei Habecks eigener Partei. Jürgen Trittin (Grüne) beispielsweise zeigte klare Kante gegen den Vorstoß. Im Wahlprogramm hatten sich die Grünen gegen Waffenlieferung in Krisengebiete ausgesprochen.
Mittlerweile haben sowohl die Grünen, als auch SPD und CDU eine Kehrtwende gemacht. Waffen werden geliefert, die Ukraine unterstützt. Und die Linke ringt noch immer um den richtigen Umgang.
Partei-Promi Sahra Wagenknecht hat gemeinsam mit der umstrittenen Feministin und Publizistin Alice Schwarzer am Tag nach dem Jahrestag zu einer Großdemonstration aufgerufen. Das "Manifest für den Frieden" – ein Pamphlet der beiden – haben mittlerweile fast 500.000 Menschen unterzeichnet.
Darunter auch Linken-Mitglieder. Wie beispielsweise Gregor Gysi, der zumindest im März 2022 noch anders dachte. Damals schrieb er einen Brief an die Fraktion der Linken im Bundestag, in dem er die "völlige Emotionslosigkeit hinsichtlich des Angriffskrieges, der Toten, der Verletzten und dem Leid", beklagte.
Die Spitze der Linkspartei hat sich von Wagenknechts Demonstrationsaufruf distanziert. In einem Vorstandsbeschluss bekennt sie sich ausdrücklich "zum Selbstverteidigungsrecht der Ukraine". Allerdings fordert sie ebenfalls "zivile Alternativen zu einem langen Abnutzungskrieg, zur Eskalation von Waffenlieferungen und Aufrüstung".
Zwar ist die Parteispitze inhaltlich nicht so weit weg von Wagenknecht, wirft ihr aber auch vor, sich mit ihrem Vorstoß nicht eindeutig gegen Rechts und die AfD abgegrenzt zu haben.