Intellektuelle wie Markus Lanz und Richard Precht reden darüber. Internationale Zeitungen wie die NZZ und die "Financial Times" berichten davon: Indien ist, wie die Amerikaner sagen, "the next big thing". Die Ökonomen versprechen sich von diesem Riesenreich den nächsten Kick für die Weltwirtschaft. Politiker träumen derweil davon, im Kampf der Supermächte einen neuen Partner gegen China gefunden zu haben. Was spricht für diese hochfliegenden Ambitionen?
Zunächst die Fakten.
Indien hat mit dem Indian Institute of Technology eine Hochschule von Weltruf. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Subkontinent auf dem Gebiet der IT nicht nur führende Unternehmen besitzt, sondern dass auch an der Spitze von Tech-Giganten wie Alphabet, Microsoft und IBM Inder zu finden sind. An Nachwuchs mangelt es ebenfalls nicht. Mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen hat Indien soeben China als bevölkerungsreichstes Land der Welt abgelöst, und im Gegensatz zu seinem Erzrivalen droht ihm keine Vergreisung: 40 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre.
Die indische Wirtschaft boomt. Im vergangenen Jahr hat das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemäß offiziellen Angaben mehr als neun Prozentpunkte zugelegt. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet damit, dass die indische Wirtschaft auch in den kommenden Jahren um mehr als sechs BIP-Prozentpunkte wachsen und damit das weltweit kräftigste Wachstum an den Tag legen wird. Die langen Jahre der "Hindu-Rate des Wirtschaftswachstums", wie der mickrige Zustand der Ökonomie des Subkontinents verspottet wurde, sind vorbei.
Auch politisch scheint sich Indien aus westlicher Sicht in die richtige Richtung zu bewegen. Aus Angst vor dem Erzfeind China wendet sich die Regierung von Premierminister Narendra Modi wieder vermehrt den USA zu und wird dabei von US-Präsident Joe Biden mit offenen Armen empfangen.
Die Verbindungen von Indien zum Quad (Quadrilateral Security Dialogue) – einem Militärbündnis, zu dem auch Australien, Japan und die USA gehören – sind soeben vertieft worden. Indien scheint zunehmend die Rolle zu spielen, die einst Frankreich unter Präsident Charles de Gaulle innehatte: ein zwar mühsamer, aber letztlich verlässlicher Partner des Westens.
Oder auch nicht. Sowohl am indischen Wirtschaftswunder als auch an seiner vermeintlich neu entdeckten Liebe zum Westen gibt es ernsthafte Zweifel. Hier sind sie:
Ashoka Mody ist ein Ökonom, der in Indien aufgewachsen ist und heute als Professor an der Princeton University in den USA lehrt. Er hat kürzlich das Buch "India is Broken" veröffentlicht. Den selbsterklärenden Titel rechtfertigt er in einem Interview mit der NZZ wie folgt: "In den letzten 75 Jahren ist es uns nicht gelungen, genügend Jobs zu schaffen. Gemäß meinen Berechnungen braucht Indien in den nächsten zehn Jahren rund 200 Millionen Arbeitsplätze. Das wird nicht gelingen, deshalb hat das Wirtschaftsmodell grundsätzlich versagt."
Auch den aktuellen Wirtschaftsboom will Mody nicht gelten lassen. Das rasante Wirtschaftswachstum des letzten Jahres sei bloß eine Reaktion auf den Einbruch wegen Covid, so der Ökonom, und sei daher nicht nachhaltig. Den Grund dafür sieht er im miserablen Schulwesen des Subkontinents.
Tatsächlich mag Indien zwar über eine technische Hochschule von Weltklasse verfügen, die Volksschule ist jedoch in einem bedauerlichen Zustand. Bei der Pisa-Studie im Jahr 2009 landete Indien auf dem zweitletzten Platz. "Die Qualität der Ausbildung ist nach wie vor miserabel", so Mody. "Das größte Problem sind die Lehrer. Das System wird immer korrupter."
Mody hält den Vergleich mit China daher für völlig verfehlt, vor allem weil das Reich der Mitte über eine ausgezeichnete Volksschule verfügt. "Es sind zwei völlig verschiedene Länder", so Mody. Und weiter:
Die geopolitischen Illusionen zerstört derweil Ashley Tellis im Magazin "Foreign Affairs". Er arbeitet am Carnegie Endowment for International Peace.
Aus Angst vor China möge sich Indien zwar dem Westen annähern, so Tellis. Doch: "Die Erwartungen von Washington an die Adresse von Indien sind völlig deplatziert. Indiens relative Schwäche gegenüber China und seine physische Nähe zum Reich der Mitte werden dafür sorgen, dass sich Neu-Delhi in einem Konflikt zwischen den USA und Peking niemals einmischen wird."
Mit anderen Worten: Indien ist einzig aus Egoismus derzeit an einer Annäherung an den Westen interessiert. Langfristig verfolgt Neu-Delhi ein ganz anderes Ziel. Es will die führende Macht der Schwellenländer des Südens werden. Daher weigert sich Indien auch, Russlands Krieg gegen die Ukraine zu verurteilen.
Ebenfalls in "Foreign Affairs" spricht Nirupama Rao, indischer Außenminister zwischen 2009 und 2011, Klartext. Er bezeichnet die Empörung der USA und Europas über Russlands Angriffskrieg als "kurzsichtig und heuchlerisch" und betont, dass sein Land nicht die Absicht habe, die Sanktionen des Westens gegen Russland mitzutragen.
Auch die Hoffnung, in Indien einen militärischen Verbündeten gegen China zu sehen, seien verfehlt. "Die amerikanischen Politiker sollten sich keine Illusionen über Indiens Engagement beim Quad machen", so Rao. "Neu-Delhi wird nicht die Rolle eines Partners für Washington gegen Peking spielen. Indien spielt beim amerikanisch-chinesischen Konflikt auf beiden Seiten. Es macht sowohl beim von den USA dominierten Quad als auch bei der von Peking geführten Shanghai Cooperation Organization mit."
Indien wird sich daher nicht in eine vom Westen geführte Koalition gegen China und Russland einbinden lassen. Bei aller Feindschaft mit Peking verfolgt Neu-Delhi geopolitisch das gleiche Ziel wie Peking: Es träumt von einer multipolaren Welt mit Indien als Führer der Schwellenländer des Südens. Ob es je über die dazu erforderliche wirtschaftliche Potenz verfügen wird, steht jedoch noch in den Sternen.