Bild: E+/Getty Images / Klubovy
Analyse
Die Pandemie und der Ukraine-Krieg haben die Weltwirtschaft umgekrempelt. Washington und Peking müssen einen neuen Konsens finden.
Philipp Löpfe / watson.ch
Erinnert ihr euch noch an den Washingtoner Konsensus? An die Doktrin des Internationalen Währungsfonds (IWF), die allen Schwellenländern offene Märkte, niedrige Zölle und möglichst wenig staatliche Regulierung aufs Auge drückte? An die Lobgesänge auf die Globalisierung, die 400 Millionen Menschen aus bitterster Armut befreite und der ganzen Bevölkerung Wohlstand und Frieden in Aussicht stellte?
Dreh- und Angelpunkt der Hymnen auf die Globalisierung war das Verhältnis zwischen den USA und China. Die chinesischen Kommunisten hatten dank des damaligen Staatschefs Deng Xiaoping den Steinzeitkommunismus Maos hinter sich gelassen und die Kräfte des freien Markts entfesselt. China wurde in überraschend kurzer Zeit die Werkstatt der Welt und übertraf die Deutschen als Exportweltmeister.
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Chimerica ist Vergangenheit
Auch politisch herrschte Tauwetter. Präsident Clinton erlaubte den Chinesen den Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO und legte so den Grundstein für ein neues Verhältnis der beiden Staaten. Dieses Verhältnis wurde bald einmal "Chimerica" genannt, ein Begriff, der ausdrückte, was damals die neue Realität war: China produziert, Amerika konsumiert – und beide sind happy.
So lange ist das alles noch nicht her. Noch 2018 sprach IWF-Direktorin Christine Lagarde am Wef in Davos davon, dass sich die Weltwirtschaft in einem "sweet spot", in einem optimalen Zustand befinde. Heute tönt dies alles ein bisschen anders.
Heute spricht man von der "Falle des Thukydides", die besagt, dass eine bestehende und eine aufstrebende Macht früher oder später zwangsläufig gegeneinander Krieg führen. Chimerica ist bestenfalls eine nostalgische Erinnerung geworden. Heute stellt die Weltbank ernüchternd fest:
"Fast alle wirtschaftlichen Kräfte, welche den Wohlstand und den Fortschritt in den letzten drei Jahrzehnten angetrieben haben, schwächen sich ab. Ein verlorenes Jahrzehnt zeichnet sich ab – für die ganze Welt."
Erster positiver Schritt: US-Außenminister Anthony Blinken (l.) bei Xi Jinping, Chinas Staatspräsidenten.Bild: Pool REUTERS / Leah Millis
Politisch ist das Klima zwischen Washington und Peking frostig geworden. Eine Mischung aus Angst vor und Hass auf China ist derzeit so ziemlich das einzige, was die Amerikaner noch vereint. Umgekehrt wird den Chinesen täglich eingehämmert, dass die Supermacht USA unheilbar dekadent geworden sei und sich in einem unausweichlichen Niedergang befinde.
Auch bei den Ökonomen hat ein Umdenken stattgefunden. Die Lobgesänge auf freien Markt und offene Märkte sind leiser geworden. In der "Financial Times" zitiert Rana Foroohar Robert Lighthizer, den ehemaligen Handelsbevollmächtigten der Trump-Regierung und China-Hardliner, zustimmend und wie folgt: "Freier Handel ist ein Einhorn – eine Erfindung der angelsächsischen Einbildung. Niemand außer der angelsächsischen Welt glaubt wirklich daran, und niemand hält sich daran."
Wer daher glaubt, dass die Biden-Regierung die Verstöße gegen die neoliberale Orthodoxie wieder aufheben wird, der irrt. Die Zölle der Trump-Regierung sind nicht abgeschafft, sondern im Zuge des "Chip war" gar erhöht worden. Auch der Glaube an den Neoliberalismus geht verloren. So hat Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater und wichtige Vordenker der Biden-Regierung, kürzlich in einer Rede erklärt, es sei ein Irrtum zu glauben, dass "die Märkte das Kapital stets produktiv und effizient" verteilen würden.
Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben maßgeblich zum neuen Zustand der Ordnung der Weltwirtschaft beigetragen. Exemplarisch zeigt sich dies am Beispiel von Deutschland. Nach dem Fall der Berliner Mauer florierte der ehemalige Vize-Exportweltmeister dank billiger Energie aus Russland und dem Hunger nach deutschen Autos.
Heute muss Deutschland Erdgas in flüssiger Form aus Katar importieren. Die Chinesen beginnen derweil, sich für Elektroautos aus eigener Produktion zu erwärmen. Die Folge: Die deutsche Wirtschaft ist in eine Rezession gerutscht.
Deutschland mag von den Änderungen der Weltwirtschaft besonders hart getroffen sein. Doch auch die Chinesen und die Amerikaner leiden darunter. Chinas Wirtschaft befindet sich in einer Krise. Die Jugendarbeitslosigkeit hat bisher ungekannte Höhen erreicht, und Wachstumszahlen werden sukzessiv nach unten geschraubt; soeben haben dies die Ökonomen von Goldman Sachs getan. Es scheint, dass Chinas Wirtschaft nach wie vor auf die westlichen Absatzmärkte angewiesen ist.
Umgekehrt hat die Pandemie den Amerikanern vor Augen geführt, wie unsicher ihre Lieferketten sind. Deshalb warnt auch Katherine Tai, die Handelsbevollmächtigte der Biden-Regierung, dass "die heutigen Handelsregeln jene Lieferketten stärken, die fragil sind und uns verwundbar machen. Das ergibt keinen Sinn zu einem Zeitpunkt, in dem wir diversifizieren und sie resilienter machen wollen."
Kann die Abwärtsspirale gestoppt werden?
Ökonomisch kennt der "neue Kalte Krieg" zwischen den USA und China, von dem die Rede ist, nur Verlierer. Doch in den letzten Monaten haben sich die Spannungen noch verstärkt. Chinas bedingungslose Parteinahme für Putin im Ukraine-Krieg verärgert Washington.
Umgekehrt reagiert Peking immer gereizter auf die amerikanischen Bemühungen, Taiwan den Rücken zu stärken. Abgeschossene Spionageballone und Beinahe-Zusammenstöße in der Luft und zur See tragen nicht wirklich dazu bei, die Luft zu klären.
Der aktuelle Besuch des US-Außenministers Anthony Blinken ist daher ein willkommener, wenn auch kleiner Schritt in die richtige Richtung. Er könnte dazu beitragen, die Abwärtsspirale zwischen der bestehenden und der aufstrebenden Supermacht zu bremsen. Er könnte auch ein klein wenig dazu beitragen, die "Falle des Thukydides" zu entschärfen. Die USA und China müssen keine Freunde werden. Niemand will ein neues Chimerica.
Ein neuer Kompromiss, der einen heißen Krieg verhindert, reicht vollkommen.
Am Ende haben nicht Abtreibungen, der Klimawandel oder die Außenpolitik die US-Präsidentschaftswahl entschieden. Wichtigstes Thema waren die Inflation und die Preise. Für 34 Prozent der republikanischen Wähler:innen war es laut einer Umfrage von YouGov ausschlaggebend für die Wahlentscheidung.