Der Tag, der Nordirland nachhaltig verändert hat, begann mit einer friedlichen Demonstration in der nordirischen Stadt Derry. Am Ende sollten 13 Leute ihr Leben lassen, getötet von britischen Soldaten.
Der sogenannte "Bloody Sunday" im Januar 1972 führte zu einer Eskalation des lange schwelenden Nordirland-Konflikts. Er ist Thema in diversen Liedern – zum Beispiel von der irischen Band U2. Und er wirkt bis heute nach, auch wenn seither bereits 50 Jahre vergangen sind. Auch der Nordirland-Konflikt könnte durch den Brexit wieder aufbrechen.
Der Konflikt reicht zurück bis ins 17. Jahrhundert: Damals haben die protestantischen Engländer das katholisch geprägte Irland besetzt. Die Republik Irland mit der Hauptstadt Dublin erklärte sich 1921 unabhängig. Nordirland mit der Hauptstadt Belfast hingegen blieb Teil der britischen Krone. Die katholischen Nationalisten konnten sich nicht gegen die pro-britischen Unionisten durchsetzen.
Seither gibt es in Teilen der Bevölkerung die Bestrebung, Irland zu vereinen. Mit Gewalt. Katholiken gegen Protestanten. Nationalisten gegen Unionisten. Bis heute gibt es in vielen nordirischen Städten die sogenannten Friedensmauern. Seit dem Karfreitagsabkommen – ein Friedensvertrag zwischen Unionisten und Nationalisten – im Jahr 1998 hat sich der Konflikt beruhigt.
Durch den Brexit 2020 droht er allerdings wieder loszugehen. Das Nordirland-Protokoll soll den Frieden auf der Insel sichern. So richtig zufrieden mit dieser Lösung waren die pro-englischen Unionisten in Irland aber nicht. Hatte beim Brexit-Referendum ein Großteil der Iren gegen den EU-Austritt gestimmt, hielten die Unionisten der DUP Boris Johnson die Treue. Mit dem Nordirland-Protokoll fühlen sie sich vor den Kopf gestoßen, denn sie fürchten durch die Nähe zur Republik Irland eine schleichende Abkopplung von England.
Aus Protest ist der nordirische Regierungschef Paul Givan von der protestantisch-unionistischen DUP im Februar zurückgetreten. Und das, obwohl die Mehrheit der nordirischen Parteien das Protokoll unterstützt.
Im selben Zuge musste auch seine gleichberechtigte Stellvertreterin Michelle O'Neill von der katholisch-republikanischen Partei Sinn Fein ihr Amt niederlegen. Das liegt an dem komplexen nordirischen Konzept der Machtteilung. Im Mai wurde deshalb ein neues Regionalparlament gewählt: Der Wahlsieger ist die pro-irische Partei Sinn Fein, die eine Wiedervereinigung Irlands anstrebt.
Die Wahl zeige vor allem die Zerrissenheit Nordirlands – davon ist der EU-Rechtsexperten Holger Hestermeyer vom Kings College in London überzeugt. Hestermeyer führt auf watson-Nachfrage aus:
Mir nichts, dir nichts kann Michelle O'Neill die Regierung allerdings nicht übernehmen. Der Grund: die bereits genannte komplexe Machtteilung im nordirischen Wahlsystem. Die Zusammensetzung des neuen Regionalparlaments, sowie der Zuspruch zum Nordirland-Protokoll führe nämlich dazu, dass die Unionisten von der DUP blockieren. "Sie (die DUP, Anm. d. Red.) sieht dies quasi als letzte Chance, das von ihnen verhasste Nordirland-Protokoll loszuwerden", sagt Hestermeyer.
London hat mittlerweile auf die Unstimmigkeiten, die Nordirland unter Umständen den Frieden kosten könnten, reagiert. Natürlich unter Berücksichtigung der Bedenken der Unionisten. Und zwar mit der Drohung einer einseitigen Aufkündigung der Brexit-Sonderregeln für Nordirland.
Das Nordirland-Protokoll sei zur größten Hürde für die Bildung einer Regionalregierung in dem Landesteil geworden, sagt Außenministerin Liz Truss einer Mitteilung zufolge vergangene Woche in einem Gespräch mit EU-Vizekommissionspräsident Maros Sefcovic. Die Situation führe zu "inakzeptablen Störungen" im innerbritischen Handel und habe zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft geführt. Die Nordiren würden dadurch anders behandelt, als die übrigen Einwohner des Vereinigten Königreichs.
Die neue stärkste Kraft im nordirischen Parlament ist von dieser Idee naturgemäß wenig begeistert: "Es ist sehr klar, dass die Tory-Regierung in London unter einer Decke steckt mit der DUP", sagt Sinn-Fein-Präsidentin Mary Lou McDonald am Samstag bei einer Parteikonferenz in Dublin. Johnson wiederum hat die nordirischen Parteien mittlerweile dazu aufgerufen, eine Einheitsregierung zu bilden und sich an die Arbeit zu machen.
Der britische Premier räumte ein, dass die von ihm unterzeichnete Brexit-Vereinbarung mit der EU Schuld an den politischen Problemen in Nordirland ist. Es handele sich um eine direkte Folge des sogenannten Nordirland-Protokolls. Johnson macht die EU für eine mangelnde Umsetzung verantwortlich. Er habe das Protokoll "in guter Absicht" unterzeichnet und nicht damit gerechnet, dass die EU es so "drakonisch" interpretiere.
Die Britische Handelskammer in Deutschland hat die Pläne der britischen Regierung scharf kritisiert, mit einem neuen Gesetz die Brexit-Sonderregeln für Nordirland teilweise auszuhebeln. "Die Entscheidung ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht und eine ernsthafte Bedrohung des durch das Karfreitagsabkommen erreichten Friedensprozesses in Nordirland", sagte BCCG-Vorstandsmitglied Alexander Altmann der Deutschen Presse-Agentur in London.
Nicht nur die Nordiren haben bei dem Brexit-Referendum mehrheitlich für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt, sondern auch die Schotten. Nach dem Austritt haben sich viele von ihnen für die Unabhängigkeit von Großbritannien ausgesprochen, um eben Teil der EU zu bleiben.
Aus Sicht Hestermeyers steht eine Spaltung des Vereinigten Königreiches aktuell trotzdem nicht auf der Tagesordnung. Weder in Schottland, noch in Irland. In Schottland sei der Ruf nach der Unabhängigkeit seit dem Brexit-Referendum leiser geworden. Eine Abspaltung brauche außerdem die Zustimmung Westminsters – also der britischen Regierung.
Auch eine Wiedervereinigung Irlands hält der EU-Experte für unwahrscheinlich. Er sagt:
Klar sei trotzdem, dass der Brexit die Lage in Nordirland destabilisiert hat.