Es ist kein gutes Jahr für die Briten.
Regierungschaos, Wirtschaftskrise und der Tod der Queen.
Jetzt zur Weihnachtszeit wünschen sich wohl viele Menschen auf der Insel etwas Ruhe von diesem Jahr. Doch die explodierenden Preise könnten die Stimmung weiter trüben.
Milch, Mehl, Zucker und Eier für Weihnachtsplätzchen sind teuer. Laut der "Nationalen Statistikbehörde" des Vereinigten Königreiches (ONS) liegt die Inflation von Lebensmittelpreisen im Oktober bei 16,2 Prozent. Statt bisher nur Alkohol, Zigaretten oder elektronische Geräte werden mittlerweile auch Käse, teure Steaks und etwa Butter mit Diebstahlsicherungen versehen.
Auch die Energie- und Treibstoffkosten steigen stark an. Die Gesamtinflationsrate im Oktober ist mit 11,1 Prozent die höchste seit 41 Jahren. Die steigenden Lebenshaltungskosten belasten die Haushaltskassen und bringen viele Menschen in Not. Der ONS zufolge treffe die Krise ärmere Haushalte am härtesten. Denn sie geben etwa die Hälfte ihres Einkommens für Lebensmittel und Energie aus.
Trägt der Brexit Mitschuld an der gravierenden Lage der britischen Wirtschaft?
"Aus europäischer Sicht fällt uns sofort der Brexit ein, den Briten aber nicht", meint der emeritierte Professor Roland Sturm von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. Als Gründe werden dort eher die Pandemie und der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gesehen. Schließlich hat der Krieg die Energie- und Weizenpreise in die Höhe getrieben.
"Die Statistiken zeigen jedoch, dass die Inflation bereits vor dem Krieg in der Ukraine auf etwa vier Prozent gestiegen ist. Und bis zu einem gewissen Grad die Inflation eine Folge des Brexits war", erklärt Professor Anthony Glees von der Universität Buckingham. Ihm zufolge ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Vereinigten Königreichs seit 2016 um 5,2 Prozent geschrumpft – wegen des Brexits. Investitionen seien um 13,7 Prozent zurückgegangen. Der Handel mit der EU, dem größten Einzelhandelspartner, sei um 15 Prozent gesunken.
Das renommierte und unabhängige "Institute of Fiscal Studies" hat laut Glees geschrieben: "Der Brexit hat sich erheblich negativ auf die britische Wirtschaft ausgewirkt." Das "Office for Budget Responsibility" (deutsch: Amt für Budgetverantwortung) meint, "der Brexit hat mehr Schaden angerichtet als Covid".
Laut der "Bank of England" werde das BIP im Jahr 2023 um 1,5 Prozent sinken. Diese Daten seien unglaublich schlecht, sagt Glees. Er führt fort:
G20 repräsentiert die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Laut des Politikwissenschaftlers Sturm hat die ehemalige Premierministerin Liz Truss die Märkte erheblich verärgert. "Diesen finanziellen Schaden versucht ihr Nachfolger zu beheben", sagt er. Der neue Premierminister Rishi Sunak der konservativen Tories hat kein leichtes Erbe angetreten.
Zunächst müsse Sunak die Inflation eindämmen, bevor an ein Wachstum der Wirtschaft zu denken sei, erklärt Glees. Denn jetzt sei klar: Ex-Premier Liz Truss lag absolut falsch, als sie sagte, Inflation sei nicht das Problem, sondern Wachstum. Truss glaubte an eine neoliberale Wirtschaftspolitik, was auch unter "Trussonomics" bekannt ist. Glees sagt dazu:
Das habe der Gouverneur der Bank of England, Andrew Bailey, mitgeteilt. Dabei sollte doch alles besser werden nach dem Brexit.
Die Versprechen der Brexit-Befürworter sind nicht eingetroffen. Diese waren laut Glees unter anderem folgende:
Mit diesen Versprechen wurde der Brexit den Briten "verkauft". Etwa 52 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung stimmte 2016 für den EU-Austritt. Sechs Jahre später sagen Glees zufolge 57 Prozent der Wähler:innen: Brexit war ein Fehler.
All das politische sowie wirtschaftliche Chaos könnte ein fruchtbarer Nährboden für Unruhen bieten. Doch laut Glees gibt es dafür keine Anzeichen.
"Die Menschen werden wohl versuchen, sich dem sinkendem Wohlstand anzupassen", sagt Glees. Das Land durchlebe einen "Winter of Discontent" (Winter der Unzufriedenheit), sagt der Brite. Monate mit endlosen Eisenbahnstreiks, Streiks von Postangestellten, Krankenpfleger:innen, Lehrenden sowie Dozent:innen. Doch all das bewirke, dass sich die Leute zurückziehen werden, meint Glees. Ihm zufolge suchen sie Trost in ihren lokalen Gemeinschaften und Familien, während sie die Politiker:innen immer mehr verachten.
Der neue Premierminister Sunak hält weiter am Brexit fest und bleibt optimistisch.
"Sunak hat für den Brexit gestimmt, weil er glaubt, es bringe enorme Vorteile und Chancen für das Vereinigte Königreich", sagt Glees. Auch der neue Finanzminister Jeremy Hunt ist ein Brexit-Befürworter und hält daran fest, dass es ein großartiger Erfolg werde. Laut Glees akzeptiere Hunt nicht, dass der Brexit das Land ärmer machen werde.
Wird Sunak mit seinem Optimismus das aufgewühlte, gespaltenen Vereinigte Königreich einen können?
"He does not stand a cat's chance in hell", meint Glees. Sprich, er rechnet Sunak wenig Chancen zu, das Land durch diese Krise zu führen. "Die Menschen sind durch die massiven Folgen des Brexits traumatisiert und gekennzeichnet", sagt der Politologe. Dennoch gebe es keinen Weg zurück. Keine der großen Parteien will das Referendum wiederholen. "Also werden die Briten, wie sie es schon oft getan haben, es mit einem Lächeln ertragen", sagt Glees. Dabei wisse jede:r, dass noch mehr Leid auf das Land zu steuern werde.
Glees erklärt, er würde kein Geld darauf wetten, dass Sunak noch Premierminister bis zum Neujahr ist.
Die sozialdemokratische "Labour Party" liegt derzeit in den Umfragen weit vorne. Glees zufolge habe der Vorsitzende Keir Starmer gute Aussichten, der nächste Premierminister zu werden. Zudem rechne der Experte mit einer vorgezogenen Parlamentswahl. Der reguläre Termin wäre im Jahr 2024. Aber auch der Labour-Politiker Starmer sei ein harter Brexiter – wie Sunak und die Ex-Premiers Truss und Boris Johnson.
Die Briten dürften also am Brexit festhalten und die Krise aussitzen. Frei nach der Devise:
"Keep calm and drink tea" – auch wenn der teuer ist.