In den vergangenen Wochen gingen in deutschen Städten von Biberach bis Berlin teilweise tausende Menschen bei sogenannten "Coronademos" oder "Hygienedemos" auf die Straße. Ihre Botschaft: Die Kontaktbeschränkungen und Verbote im Kampf gegen das Coronavirus sind falsch. Auf diesen Demos und ihrem Umfeld tummeln sich – neben Menschen, die schlicht von Alltagssorgen und Zukunftsangst geplagt sind – auch solche, die Abenteuerliches verbreiten: vom angeblich bevorstehenden Ende aller bürgerlichen Freiheiten, von vermeintlichen Geheimplänen böser Mächte, die hinter der Corona-Politik von Bund und Ländern stünden.
Eine sogenannte "Hygiene-Demo" vor dem Reichstag in Berlin im Mai.Bild: watson / Lukas Weyell
"Verschwörungstheorien" nennen viele Menschen diese Erzählungen – und als "Verschwörungstheoretiker" werden oft diejenigen bezeichnet, die sie verbreiten. Dabei sind beide Ausdrücke falsch. Dafür gibt es mehrere gute Gründe – und es gibt bessere Alternativen zu diesen Wörtern.
"Antisemiten und Rassistinnen lieben den Begriff 'Verschwörungstheorie', weil er ihren Verschwörungsvorwürfen eine höhere Würde verleiht."
Religionswissenschaftler Michael Blume
Warum "Verschwörungstheorie" das falsche Wort ist
Wer "Verschwörungstheorie" sagt, der schenkt Schwurbelei und absurden Geschichten zu viel Ehre. Eine Theorie basiert auf aufwendiger wissenschaftlicher Arbeit, auf nachweisbaren Fakten und: Eine Theorie wird überarbeitet, wenn neue Fakten sie widerlegen. Auf Verschwörungserzählungen trifft das nicht zu: Sie bestehen weiter, selbst wenn die Wirklichkeit sie längst widerlegt hat.
Anders gesagt: Wissenschaftliche Theorien werden den Fakten angepasst. Für Verschwörungserzählungen werden die Fakten so zurechtgebogen, dass sie zur angeblichen Verschwörung passen.
Der Religionswissenschaftler Michael Blume – der seit 2018 Antisemitismusbeauftragter für das Land Baden-Württemberg ist und seit Jahren zu Verschwörungserzählungen forscht, darüber schreibt und Vorträge hält, fasst es so zusammen:
"Diese Erzählungen sind nicht dafür da, etwas zu erklären – sondern, um Feindbilder zu schaffen."
Blume sagt: "Antisemiten und Rassistinnen lieben den Begriff 'Verschwörungstheorie', weil er ihren Verschwörungsvorwürfen eine höhere Würde verleiht." Und: "Wer diese Dinge als Verschwörungstheorie bezeichnet, der hat eigentlich schon verloren."
Michael Blume ist seit 2018 Beauftragter des Landes Baden-Württemberg gegen Antisemitismus und forscht seit langem zu Verschwörungsmythen.Bild: dpa / Marijan Murat
Es gibt noch einen Grund, warum das Wort "Verschwörungstheorie" problematisch ist: Menschen wie der vegane Koch Attila Hildmann und Sänger Xavier Naidoo verwenden es selbst gezielt, um die eigenen Positionen zu stärken. Das funktioniert so: Laut einer verbreiteten Erzählung hat der US-amerikanische Geheimdienst CIA das Wort angeblich selbst erschaffen, um Kritiker mundtot zu machen. Das ist allerdings falsch, der Begriff taucht sogar schon im 18. und 19. Jahrhundert auf. Der Philosoph Karl Popper hat ihn im 20. Jahrhundert etabliert, um vor Verschwörungsglauben zu warnen.
Die Alternativen: von "Schwurbelei" bis "Ideologie"
Es ist wichtig, klare Worte für die Horrorstorys zu finden, die zur Corona-Pandemie und zu anderen Krisen verbreitet werden. Wissenschaftler wie Autoren beschäftigen sich mit der Frage nach der richtigen Wortwahl seit Langem, zum Beispiel Katharina Nocun und Pia Lamberty in ihrem jüngst erschienenen Buch "Fake Facts". Religionswissenschaftler Blume schlägt vier verschiedene Ausdrücke vor, um möglichst genau zu unterscheiden, was Sache ist – und um zu verdeutlichen, wie tief eine Person schon im Sumpf des Verschwörungsglaubens steckt.
"Verschwörungsglaube" ist der Ausdruck, den Blume für die große Erzählung hinter den Mythen vorschlägt: Also etwa die Wahnvorstellung, dass Bill Gates, Microsoft-Gründer und heutige Chef der größten Privatstiftung der Welt, hinter der Corona-Politik vieler Regierungen stecke.
Von "Verschwörungsideologie" kann man laut Blume sprechen, wenn Menschen überzeugt sind, dass fast hinter allem Übel der Welt Verschwörungen steckten. Diese Ideologie, sagt Blume, könne dann meistens auch nicht mehr diskutiert werden. "Es ist dann völlig egal, was schiefgeht: Es wird immer auf dasselbe Feindbild zurückgeführt", sagt Blume. Und oft steht dann eine Gruppe am Pranger, die seit Jahrhunderten zum Feindbild gemacht wird: Jüdinnen und Juden. Wer Verschwörungsmythen auf den Grund geht, stößt oft und schnell auf blanken Antisemitismus.
Wer noch nicht allzu tief abgedriftet ist in die Parallelwelt der Verschwörungsgläubigen, den bezeichnet Blume als "Verschwörungsschwurbler". "Verschwörungsschwurbelei" ist demnach der richtige Ausdruck dafür, wenn Menschen etwa einen Verschwörungsmythos in einer WhatsApp-Gruppe aufschnappen und dann weiterverbreiten. Die Schwurbelei ist so etwas wie eine geistige Einstiegsdroge. "Wer in diesem Anfangsstadium ist, den kann man noch zurückholen", sagt Blume und ergänzt: "Je tiefer die Menschen im Verschwörungsglauben versinken, desto schwieriger wird es."
Ein Teilnehmer einer Coronademo in Frankfurt, der eindeutig zeigt, dass er an Verschwörungsmythen glaubt.Bild: dpa / Frank Rumpenhorst
Wie gefährlich sind Verschwörungsmythen – und was lässt sich dagegen tun?
Michael Blume hat zu Verschwörungsmythen eine schlechte und eine gute Nachricht.
Die schlechte: Die Menschen, die – wie etwa der vegane Koch Hildmann – in den vergangenen Monaten in den Verschwörungsglauben abgerutscht sind, könnten sich Blumes Ansicht nach weiter radikalisieren – und das könne schnell gehen. Das Problem: Während Verschwörungsgläubige bis vor wenigen Jahren wirre Ansichten maximal am Stammtisch oder im Bekanntenkreis verbreiten konnten, haben sie heute Zugang zu einem riesigen Publikum. Über ihre Telegram-Channels erreichen Hildmann oder Sänger Naidoo täglich zehntausende Menschen. Und wie mörderisch der Verschwörungsglaube sein kann, hat sich in den vergangenen Monaten leider mehrfach gezeigt: die Attentäter von Christchurch, Halle, Hanau und Celle glaubten allesamt an Verschwörungsmythen.
Die gute Nachricht: Insgesamt glauben laut Blume in Deutschland heutzutage deutlich weniger Menschen an Verschwörungsmythen mit festen Feindbildern als in der Vergangenheit. Blume verweist auf die "Pestprogrome" vergangener Jahrhunderte, bei denen Menschenmassen Juden jagten und töteten, weil sie sie für die Seuche verantwortlich machten. "Verschwörungsmythen werden die Demokratie nicht zerstören", sagt er. "Aber sie könnten weiter zu einzelnen Gewalttaten führen."
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