Die Züge der Bundesrepublik sind voll, die Straßen sind es auch. Autofahrende standen zwischen Juni und September 2022 insgesamt 81.135 Stunden im Stau. Auch weniger als 70 Prozent der Fernzüge waren 2022 pünktlich. Die Deutschen sind also mobil – und sie müssen für den Weg von A nach B viel Zeit einräumen. Und oft auch viel Geld.
Gleichzeitig stehen Deutschland und die Welt vor der Aufgabe, so schnell wie möglich Emissionen einzusparen. Jeder Monat des Jahres 2022 war zu warm. Und natürlich ist neben der Industrie auch die Mobilität ein großer Sektor, in dem Kohlenstoffdioxid eingespart werden muss.
Wie genau sich die Mobilität entwickeln müsste, um klimafreundlicher und zukunftsfähig zu sein, darüber hat watson mit dem Mobilitätsexperten Hans-Peter Kleebinder gesprochen. Kleebinder ist Studienleiter am Institut für Mobilität der schweizerischen Universität St. Gallen – und war selbst Jahrzehnte in der Autoindustrie tätig.
Für ihn ist klar: Der Mensch wird immer mobil sein – worüber allerdings gesprochen werden müsse, sei die Art, wie diese Mobilität ermöglicht wird.
Das 9-Euro-Ticket im vergangenen Sommer, meint Kleebinder, sei ein gutes Experiment gewesen. Erstmals hätten Daten erhoben werden können, wie viele Menschen tatsächlich auf die Schiene umsteigen würden – und wie die Bahn damit klarkäme. Das Ergebnis: Viele Menschen haben die Bahn genutzt und das Unternehmen war maßlos überfordert.
"Der Preis ist wichtig. Für viele ist die Einfachheit mindestens genauso wichtig. Zum Beispiel ein Ende des Tarifzonenwahnsinns", sagt Kleebinder. Diese Vereinfachung – die auch das 49-Euro-Ticket ab Frühling bringen soll – helfe beim Umstieg vom Auto auf die Bahn. Neben dieser Vereinfachung müsse sich aber natürlich auch die Zusammenarbeit der einzelnen Betreibergesellschaften und Busunternehmen verbessern.
Und da müsste einiges optimiert werden. "Wir sind heute bereits in einem Verkehrskollaps", stellt der Experte klar. Denn durch die vielen Verspätungen müssten Reisende, die zu einem fixen Zeitpunkt an einem Ort sein müssen, oft mit großem Puffer losfahren. "Das ist ein totales Fiasko für unsere Lebensqualität und Volkswirtschaft", sagt er.
Insgesamt, meint Kleebinder, müssten Infrastrukturprojekte schneller umgesetzt werden. Und sie müssten parteiunabhängig werden – denn die Umsetzung brauche meist länger als eine Legislaturperiode. Was außerdem passieren müsse: Weichenstellung, Schienennetz und Fahrpläne müssten digitalisiert werden. So könnten die Kapazitäten voll ausgenutzt werden, weil die Taktung leichter angepasst werden könnte.
Am Ende bringt ein Ausbau der Kapazitäten nichts, wenn die Bahn nicht gleichzeitig digitalisiert würde – und andersherum. Es sei daher von Vorteil, dass Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) gleichzeitig das Amt des Digitalministers innehat.
Kleebinder führt aus:
Wissings Analyse der Knotenpunkte, die angegangen werden müssten, habe Kleebinder überzeugt. Nun müsse der Verkehrsminister aber liefern – genauso wie seine Nachfolger:innen. "Ohne diesen parteiübergreifenden Mobilitäts-Masterplan kommen wir aus unserem Verkehrskollaps nicht raus", schließt der Mobilitätsexperte.
Auch die Mobilität auf der Straße müsse digitaler werden, meint Kleebinder. So ließen sich beispielsweise intelligente Ampeln installieren, oder die Fahrspuren an das tatsächliche Verkehrsaufkommen anpassen. "Verkehr ließe sich viel einfacherer organisieren, wenn unsere Mobilitätsdaten genutzt würden", stellt Kleebinder klar.
Aber auch im Bereich der Art und Weise, wie Autos genutzt werden. Denn: "Wir haben nahezu eine Vollmobilisierung", sagt Kleebinder. Was er damit meint: In Deutschland gibt es 48,5 Millionen zugelassene Fahrzeuge. 2021 hatten rund 58 Millionen von 69 Millionen Volljährigen einen Führerschein.
"Wir haben also zu viele Fahrzeuge, die wir eigentlich völlig irrational nutzen: Ein normales Fahrzeug steht im Schnitt 23 Stunden am Tag herum", sagt Kleebinder. Hochgerechnet sei also die Ausnutzung eines Produktes, das in der Anschaffung im Schnitt 5000 Euro kostet, sehr gering. Es gehe in Zukunft deshalb um die Frage: "Wie können wir bestehendes Blech und Asphalt sinnvoller und intelligenter nutzen?"
Hinzukomme, dass die Autos auch durch Subventionen immer größer und schwerer würden – dadurch machten die Automobilhersteller zwar höhere Gewinne, vom Staat würden sie aber in keiner Weise reguliert. Das Ende vom Lied: Kaufprämien für Elektroautos gibts für die großen E-SUVs genauso wie für E-Kleinstfahrzeuge. Kleebinder nennt den Umweltbonus, mit dem der Kauf von umweltfreundlichen Fahrzeugen gefördert wurde, einen der größten Fehler der vergangenen Jahrzehnte.
Stattdessen müsse ein politisches Umdenken stattfinden, meint er. Denn gerade für Städte seien großflächige Carsharing Angebote sinnvoll. Genauso wie eine bewusste Förderung von Mikromobilität.
Also beispielsweise elektrische Leichtfahrzeuge für ein bis zwei Personen, die bis zu 25 km/h fahren können. Sie bräuchten weniger Platz und weniger Energie – und sie seien auch effizienter in der Herstellung. Gefördert, erklärt Kleebinder, werden sie bisher aber nicht. Zum Mikromobilität-Angebot gehören aber auch E-Scooter, die größeren E-Roller oder auch Leihfahrräder.
"Die Politik sollte die nachhaltigere Nutzung und nicht den Erwerb und Besitz von Autos fördern", sagt Kleebinder. Das könne zum Beispiel durch Steuervorteile funktionieren oder durch Fast-Lanes und Sharing-Parkplätze, die nur für Menschen sind, die etwa ihre Autos teilen. Er fügt an: "Wir müssen die totale Abhängigkeit vom eigenen, möglichst großen Auto weiter reduzieren."
Es brauche mehr Sammeltaxis, Rufbusse oder Carsharing-Angebote. Bisher sei da aber nicht viel passiert. Gerade in ländlichen Regionen seien die Menschen nach wie vor aufs Auto angewiesen. In vielen Städten – wie beispielsweise München – seien eigene Parkplätze so günstig, dass es sich kaum lohne, umzusteigen.
Insgesamt gehe es im Mobilitätssektor, wie auch bei den verschiedenen Antriebsmöglichkeiten, um einen Mix: Derzeit sei E-Mobilität die nachhaltigste Form, aber auch E-Fuels könnten künftig ihren Beitrag leisten. Beispielsweise für den Transport schwerer Lasten, bei Zügen und bei Schiffen.
Klar sei aber auch, dass Deutschland sich vom Auto als Wohlstandsbringer verabschieden muss. Zumindest in der Art und Weise, wie die Industrie aktuell funktioniert. "Wir haben Angst, loszulassen und diese Kuh nicht weiter zu melken – aber wir müssen einsehen, dass diese Kuh zu Ende gemolken ist und eine neue multimodale Mobilitätsindustrie entstehen wird", sagt Kleebinder. Das liege sowohl an den Klimazielen, als auch am Umdenken vieler Menschen der jüngeren Generationen.
Deshalb sei es umso wichtiger, dass die Politik breite Lösungsansätze bietet und den Ausbau der Schiene beschleunigt, um einen Nachteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu vermeiden.
Kleebinder ist davon überzeugt, dass sich unsere Mobilität hin zu mehr Selbstbestimmung durch mehr Wahlfreiheit und Optionen entwickeln wird. Das sei bereits jetzt an der Möglichkeit von Homeoffice oder Online-Meetings zu sehen. Statt auf die Arbeit oder zu Kongressen zu pendeln, könnte Mobilität in Zukunft vor allem freiwillig sein. Um in den Urlaub zu fahren, oder Menschen zu besuchen.