200.000 Leute hatten sich vor der Siegessäule versammelt, um den Senator aus Chicago reden zu hören. Der ehemalige US-Botschafter John Kornblum war ebenso gebannt von dessen begnadeter Rhetorik wie Berlins damaliger Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit. Dicht an dicht drängten sich die Menschen, um mit ihren Kameras ein Foto vom Hoffnungsträger der Demokraten in den USA zu knipsen. Der 24. Juli 2008 war der John-F.-Kennedy Moment für Barack Obama. Kein US-amerikanischer Präsidentschaftskandidat hat es seither geschafft, die Deutschen derart für sich einzunehmen wie Barack Obama.
Nur eine war wenig begeistert vom aufsteigenden Politik-Star, der bald US-Präsident werden sollte: Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Kanzlerin machte kaum einen Hehl daraus, dass sie den Rummel um den charismatischen Präsidentschaftskandidaten für übertrieben hielt. Auch ihrem engeren Umfeld und Beratern gab sie klar zu verstehen, dass sie ihn für überbewertet und einen Selbstdarsteller hielt. Zumindest erzählt das Barack Obama in seinen Memoiren. Watson hat die spannendsten Aussagen des ehemaligen US-Präsidenten über die Kanzlerin zusammengefasst.
Dass sie sich zunächst fremd waren, ist kaum überraschend: Die beiden Politiker könnten in ihrer Sozialisation kaum unterschiedlicher sein. Obama war 1961 als Kind einer damals noch außergewöhnlichen "mixed marriage" geboren worden, einer Mischehe zwischen einem kenianischen Austauschstudenten und einer weißen US-Amerikanerin. Es war die Zeit der Segregation in den USA. Die Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King war gerade erst im Entstehen. Obamas Eltern heirateten in einem der Bundesstaaten, in denen eine Verbindung zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe in den 1960er-Jahren überhaupt erlaubt war: Hawaii.
Barack Obama wuchs dort zunächst auf, zog dann mit seiner Familie in die indonesische Hauptstadt Jakarta, wo er die von Kapuzinern geführte "St. Francis of Assisi Elementary School" besuchte. Mit zehn Jahren kehrte Obama schließlich nach Hawaii zurück und wurde von dort an von seinen Großeltern aufgezogen. Obama studierte nach seiner Schulzeit an der renommierten Columbia University in New York City und arbeitete einige Jahre als Rechtsanwalt und für Wohltätigkeitsorganisationen, bevor er 1996 in den Senat gewählt wurde und seine politische Karriere begann. Eine Geschichte, die von sozialem Aufstieg und dem Kennenlernen verschiedener Kulturen geprägt war.
Angela Merkel hingegen war groß geworden in der DDR, im real existierenden Sozialismus der 1960er, 1970er und 1980er-Jahre. Demokratischer Protest, wie er zeitgleich im Süden der USA gegen die Rassentrennung stattfand, war in Ostdeutschland nur ferne Hoffnung. Ähnlich weit entfernt waren Auslandsreisen – oder überhaupt das Studieren an einer der Hochschulen, wenn man nicht die für das sozialistische Regime richtige politische Gesinnung an den Tag legte. In einem diktatorischen System lernte die spätere Bundeskanzlerin, sich den Gegebenheiten anzupassen und mit Pragmatik und kühlem Verstand auf das Wesentliche zu besinnen.
Vernunftgeleitet, unemotional und in der Außendarstellung eher moderierend und zurückgenommen, so wurde Merkels Politikstil von vielen politischen Beobachtern beschrieben. Auch in der Corona-Krise zeigte sie sich zuletzt immer wieder als faktenorientierte Naturwissenschaftlerin, die ihre Aufmerksamkeit mehr Zahlen als Stimmungen zuwendete. Und so beschreibt sie auch Barack Obama in seinen Memoiren:
Für den ehemaligen US-Präsidenten war die nüchterne Bundeskanzlerin das komplette Gegenteil zu ihrem französischen Pendant Nicolas Sarkozy, an dem der ehemalige US-Präsident kaum ein gutes Haar lässt:
In der Folge war Angela Merkel dann laut dem früheren US-Präsidenten auch sein erster Ansprechpartner, wenn er Kontakt zum alten Kontinent suchte. Deutschland war nicht nur wirtschaftlich das wichtigste Land der EU.
Man habe sich auch auf die Bundeskanzlerin und ihr Wort verlassen können, erklärt Obama. Allerdings war die Zuneigung, zumindest zu Beginn, nicht gegenseitig. Obama hatte einen schwierigen Start bei der Bundeskanzlerin, noch bevor er Präsident war: Für Angela Merkel war sein Wahlkampfauftritt in Berlin im Sommer 2008 vor 200.000 Menschen Zeichen von Obamas Selbstüberschätzung.
Wenn man den Darstellungen des ehemaligen US-Präsidenten folgt, war Merkel zunächst alles andere als begeistert von Obamas Talent als Redner. Trotzdem nahm Obama Angela Merkel ihre Skepsis nicht übel. Im Gegenteil: Der US-Präsident hatte mit Blick auf die deutsche Geschichte großes Verständnis für die Haltung der deutschen Bundeskanzlerin, die sich wohl auch unverkennbar in deren Mimik abzeichnete:
Insbesondere ein gemeinsamer Besuch der Gedenkstätte Buchenwald mit dem Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel sensibilisierte Barack Obama für die Geschichte und das historische Vermächtnis der Bundesrepublik, wie er in seinem Buch schreibt. Der US-Präsident hatte einen persönlichen Bezug zum ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald: Einer seiner Großonkel, Charley Payne, war Mitglied der amerikanischen Infanteriedivision gewesen, die im April 1945 eines der Außenlager erreicht und mit der Befreiung begonnen hatte.
Der Besuch hat sich Barack Obama tief ins Gedächtnis eingebrannt, wie er in seinen Memoiren berichtet – und auch mehr Verständnis für die deutsche Skepsis und Abwehrhaltung gegenüber charismatischen Persönlichkeiten hervorgebracht. Mit einiger Bewunderung schreibt er über den Umgang der Bundeskanzlerin mit der deutschen Geschichte:
Und die Bewunderung für die Kanzlerin sollte mit der Zeit noch weiter steigen.
Es ist kein Geheimnis, dass Angela Merkel und Barack Obama zum Ende von dessen zweiter Präsidentschaft fast schon eine Art "Dream-Team" auf der politischen Bühne der Internationalen Beziehungen waren. Unvergessen die Bilder vom G7-Gipfel auf Schloss Elmau, auf denen Barack Obama und Angela Merkel eng vertraut miteinander im Gespräch zu sehen waren.
Trotz Obamas Fokus auf Asien sorgte die persönliche Beziehung zwischen den beiden Regierungschefs für ein gutes transatlantisches Verhältnis. Barack Obama lernte seine deutsche Kollegin, trotz inhaltlicher Differenzen, immer mehr zu schätzen, wie er in seinem Buch schreibt:
Auch mit den Marotten und Eigenheiten der Kanzlerin lernte Obama nach eigenen Angaben umzugehen. Die inhaltlichen Differenzen zwischen den beiden Ländern, wie die Forderung der USA nach einem höheren Beitrag Deutschlands für die NATO, wurden erst unter Obamas Nachfolger Donald Trump öffentlich heftig ausgetragen.
Das gute Verhältnis zwischen Obama und Merkel hielt indessen auch nach der Amtszeit des US-Präsidenten an. Im April 2019 besuchte er die Kanzlerin zu einem privaten Gespräch und beglückwünschte sie im Frühjahr 2020 zu ihrem gelungenen Management der Corona-Krise.