Der Erdrutsch.
Der Dammbruch.
Er könnte am Sonntag kommen.
Lars Schieske könnte in Cottbus Oberbürgermeister werden. Er wäre der erste AfD-Oberbürgermeister einer größeren Stadt. Bisher hatten es die Rechts-außen-Politiker:innen nur in kleineren Gemeinden an die Spitze geschafft.
Und das meist auch nur, weil die Bürgermeister nach Amtsantritt in die AfD eingetreten sind. So war es zum Beispiel im baden-württembergischen Burladingen. Im sächsischen Reuth.
Bei Lars Schieske ist das anders. Cottbus ist die zweitgrößte Stadt in Brandenburg, der Oberbürgermeister hat Einfluss. Und Schieske würde als AfD-Politiker gewählt. Und zwar bei einer Stichwahl, nachdem bei der Wahl im September keiner der Kandidierenden die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte.
Verhindern könnte diesen Dammbruch der SPD-Kandidat Tobias Schick. Bei der Wahl im September überzeugte der SPD-Mann überraschend 31,8 Prozent der Stimmen. AfD-Politiker Schieske bekam 26,4 Prozent. Insgesamt sieben Kandidat:innen hatten sich dem Votum der Bürger:innen gestellt. Schick hat den ersten Wahlgang gewonnen – seine Mehrheit reicht aber nicht, um den Posten ohne weiteres zu übernehmen. Aus diesem Grund die Stichwahl am Sonntag. Zwischen AfD und SPD.
Schick ist im Stress, als er wenige Tage vor der Wahl anruft. Er wisse, Medienarbeit sei wichtig, aber noch wichtiger sei es aktuell, die Unentschlossenen auf der Straße zu überzeugen. Präsent zu sein. Mit den Menschen zu sprechen. Die Bürger:innen zu überzeugen.
Warum so viele Menschen unentschlossen sind?
"Das liegt natürlich auch an der Großwetterlage", sagt Schick im Gespräch mit watson. Die Lausitz, in der Cottbus liegt, ist eine Energieregion. "Und nun haben wir eine Energiekrise. Und die treibt die Menschen um", sagt Schick. Er selbst spüre beim Tanken, wie die Preise steigen. Er selbst lebe in einer Mietwohnung – mit nun höheren Abschlägen für die Nebenkosten. "Die Menschen sind verzweifelt", sagt er.
Er verstehe den Protest, den Unmut.
Das große Thema der Lausitz: Strukturwandel. Wie in so vielen Regionen im Osten der Republik. Cottbus ist Braunkohleregion. 17 Milliarden will der Bund in die Lausitz investieren. In Cottbus werden viele Investitionen erwartet, viel Geld soll in die Schaffung neuer Arbeitsplätze fließen.
Was Schick den Unentschlossenen auf der Straße klarmachen möchte: Kommunalpolitik kann viel verändern. Zum Beispiel, indem in Radwege und den Nahverkehr investiert wird. Indem auch die Ortsteile die Möglichkeit haben, in die Innenstadt zu kommen. Und so die Bürger:innen Tankkosten sparen können. Außerdem wichtig: Der Ausbau der Schulen, die Schaffung bezahlbaren Wohnraums, die Pflege der Seen. Attraktives Leben in Cottbus eben.
Schick will Anreize schaffen. Damit Menschen dort bleiben und neue hinzukommen.
Was für den SPD-Mann klar ist: Die Menschen, die in Cottbus die AfD wählen, will er nicht aufgeben. Er möchte mit ihnen ins Gespräch kommen, sie zurückholen auf demokratischen Boden. In den Tagen vor der Wahl nimmt Schick eine sehr diverse Stimmung in seiner Stadt wahr: Da gebe es den einen Typ Bürger:in, der zu ihm komme und sage: "Natürlich wähle ich Sie", es gebe aber auch andere, die sagten: "Ich weiß, Sie machen gute Dinge, Herr Schick, aber Ihre Partei ist unwählbar."
Und dann gebe es noch jene Bürger:innen, die gar nicht mit ihm sprechen würden. Die nur vorbeiliefen und den Kopf schüttelten. Auch mit ihnen muss der OB-Kandidat klarkommen. Denn was auch zur Cottbusser Wahrheit gehört: Die AfD ist in der Stadt fest verankert. Bei der Landtagswahl 2019 gewann die AfD das Direktmandat – und hatte die meisten Zweitstimmen.
Die Fraktion der AfD in der Cottbusser Stadtverordnetenversammlung hat sich innerhalb eines Jahres allerdings halbiert: Sechs Abgeordnete haben die Fraktion im ersten Jahr verlassen. Der Grund: Der rechtsextreme Flügel hat zu viel Einfluss. So zumindest hat der ehemalige Mitbegründer der Cottbuser AfD, Klaus Groß, seinen Austritt begründet.
Der OB-Kandidat der zerstrittenen Cottbusser-AfD unterdessen sieht sich kurz vor der Stichwahl mit einer Anzeige wegen Volksverhetzung konfrontiert. Wie unter anderem rbb berichtet, hat die Cottbusser Grünen-Politikerin Barbara Domke die Anzeige erstattet. Sie teilte dem Sender mit, dass die Polizei den Eingang der Anzeige bestätigt habe. Nun kümmere sich der Staatsschutz um die Bearbeitung.
Lars Schieske schreibt in seinem Brief, der vielen Cottbusser Bürger:innen zugestellt wurde, "die Altparteien" scherten sich nicht um "normale Deutsche". "Um uns". Viele Deutsche trauten sich nicht mehr auf die Straße, schreibt er. Und hetzt gegen Menschen mit Migrationserfahrung. Seinen Kontrahenten Schick nennt er einen "Kartellkandidaten".
"Die Altparteien" gegen "uns normale Deutsche". Das klassische "Wir hier unten" gegen "Die da oben". AfD-Sprech.
Um Schieske als Oberbürgermeister zu verhindern, unterstützt auch der CDU-Kandidat Thomas Bergner seinen SPD-Kontrahenten bei der Stichwahl. Bei "Lausitz.tv" sagte Bergner nach dem ersten Wahlgang:
Auch die Linke, die FDP und die Grünen sagten Schick ihre Unterstützung zu.
Aber nicht nur, dass alle demokratischen Parteien – ob politisch nah oder fern – hinter dem SPD-Kandidaten stehen, zeigt, wie wichtig die Wahl am Sonntag ist. Auch wenn es sich "nur" um eine Oberbürgermeisterwahl handelt. Normalerweise finden die meisten dieser Wahlen ohne überregionales Interesse statt.
In Cottbus aber gibt sich die Parteiprominenz im Vorfeld der Stichwahl die Klinke in die Hand: SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert war dort, genauso wie die regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey (SPD). Und die AfD-Spitze. Sowohl Tino Chrupalla, als auch Alice Weidel kamen, um ihrem Parteigenossen den Rücken zu stärken.
Und auch die Zivilgesellschaft will ein blaues Rathaus verhindern: Unter dem Hashtag #Cottbusbleibtstabil organisierten sich Bürger:innen, um gegen die AfD zu protestieren. Darunter Reggae- und Hip-Hop-Band Culcha Candela und der Rapper Shakim.
Shakim fordert Menschen auf, zur Demo zu kommen. In einem Video sagt er: "Werdet lieber jetzt aktiv, setzt ein Zeichen, bevor wir es alle im Nachhinein bereuen werden."
Auch der SPD-Kandidat Schick ist dabei. Er sagt im Vorfeld: "Die Initiatoren wollen zeigen, dass es hier verschiedene Akteure gibt, die für Weltoffenheit stehen." Denn auch in Cottbus gebe es eine demokratische Alternative zur selbsternannten Alternative.