IISS-Experte: Russland geht immer größere Risiken ein – "Zeit spielt nicht mehr für Putin"
Die Spannungen zwischen Russland und dem Westen nehmen weiter zu. In den vergangenen Wochen sind immer häufiger russische Drohnen und Kampfjets in den europäischen Luftraum eingedrungen. Gleichzeitig häufen sich Cyberangriffe, Sabotageversuche und Drohgebärden an den Grenzen der Nato. Viele Beobachter:innen sehen darin eine neue Stufe der Eskalation. Es ist ein Test, wie geschlossen und belastbar Europa nach fast vier Jahren Krieg in der Ukraine noch ist.
Während die westlichen Staaten über weitere Militärhilfen, Sanktionen und Verteidigungsausgaben streiten, verschärft sich auch Russlands Rhetorik. Präsident Wladimir Putin spricht wieder von einer "existentiellen Bedrohung" durch den Westen. Und in Moskau wächst der Druck: Die Wirtschaft stöhnt unter Sanktionen, die Front stagniert, die Unzufriedenheit wächst.
Vor diesem Hintergrund warnt der frühere britische Diplomat Nigel Gould-Davies vom International Institute for Strategic Studies (IISS): Der Krieg habe "eine neue und gefährlichere Phase" erreicht.
Faktoren gegen Russland: Trump, Europa, China und die innere Krise
Wie er in seiner Analyse schreibt, sei das ein Ergebnis einer Kombination aus internationalen Weichenstellungen. Hinzu kommt Russlands zunehmende innere Schwäche. "Da die Zeit möglicherweise nicht mehr auf Russlands Seite ist, stellt Moskau den Westen auf immer riskantere Weise auf die Probe", schreibt Gould-Davies darin.
Vier Entwicklungen prägen ihm zufolge den Kurs des Kremls:
Die erste: Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus im Januar 2025. In Moskau habe das zunächst Hoffnung auf einen Sieg zu seinen Bedingungen geweckt, denn Trumps Ziel eines raschen Kriegsendes schien Russland in die Hände zu spielen.
Doch trotz diplomatischer Bemühungen, etwa beim Alaska-Gipfel im August, blieb der Durchbruch aus. Stattdessen ist Trumps Ton gegenüber Wladimir Putin zuletzt schärfer geworden, Waffenlieferungen laufen weiter, "nun verkauft, nicht verschenkt". Das Ergebnis: keine entscheidende Wende, weder zugunsten Russlands noch zum Schrecken Europas.
Die zweite Entwicklung: Europa rüstet auf. Beim Nato-Gipfel im Juni beschlossen die Mitgliedstaaten, bis 2035 fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung zu investieren, das ist ein massiver Sprung. "Da Europas Wirtschaft zehnmal so groß ist wie die Russlands, bedeutet das eine enorme Aufrüstung", betont Gould-Davies.
Hinzu kommen vier neue EU-Sanktionspakete allein in diesem Jahr und Pläne für ein 140-Milliarden-Euro-Darlehen an die Ukraine, finanziert aus eingefrorenen russischen Zentralbankgeldern. Diese Mittel könnten, so der Analyst, "die Ukraine für zwei bis drei Jahre finanziell tragen und die Last für europäische Steuerzahler:innen verringern".
Drittens: Chinas Kurswechsel. Peking steht nun offener auf der Seite Moskaus. 2024 hatte die Nato China als "entscheidenden Ermöglicher" des russischen Kriegs bezeichnet, wegen seiner militärischen und zivilen Lieferungen. Im September stimmte China schließlich dem Bau der Gaspipeline Power of Siberia 2 zu, die Russlands Gasexporte nach Osten verdoppeln soll. "Das war ein Ziel, um das Moskau jahrelang gebettelt hat", schreibt Gould-Davies.
Und viertens: Russlands innere Lage. Krieg und Sanktionen schnürten die Wirtschaft "wie zwei Scherenblätter", heißt es in der Analyse. Die Realzinsen seien weltweit die höchsten, der Arbeitsmarkt leergefegt, zivile Produktion stagniere. "Der einzige Wachstumstreiber ist die Kriegswirtschaft", schreibt Gould-Davies. Selbst Putin räumte jüngst ein, dass die Rüstungsproduktion "am Limit" sei. Gleichzeitig führten ukrainische Angriffe auf Ölraffinerien zu "spürbaren Störungen im zivilen Leben".
Experte zu Russland: Optimismus rund um Putin bröckelt
Der Optimismus, der 2023 noch unter Eliten und sogenannten "Z-Bloggern" herrschte, sei verschwunden. Stattdessen wachse Angst und Resignation. Gould-Davies zitiert Insider, die bereits "Fluchtpläne aus dem Land schmieden, falls alles zusammenbricht". Selbst enge Putin-Vertraute zögen sich zurück: Dmitri Kosak, seit den 1990ern Teil des Machtzirkels, trat im September zurück.
Militärisch, schreibt Gould-Davies, sei Russlands Sommeroffensive gescheitert, "zu einem enormen Preis an Menschenleben". Diplomatisch habe Moskau in den USA keinen Kurswechsel erreicht, wirtschaftlich drohe eine schleichende Erosion. Zwar werde China weiter Waffen liefern, doch die Gasdeals, die Russlands Finanzen stabilisieren könnten, kämen "frühestens 2030".
"Die Zeit ist möglicherweise nicht mehr auf Russlands Seite", warnt Gould-Davies. Der materielle und technologische Vorsprung des Westens sei überwältigend. Russland könne nur gewinnen, "wenn es den Westen daran hindert, seine überlegene Stärke in tatsächliche Macht zu verwandeln. Etwa durch das Untergraben seines Durchhaltewillens".
Darum intensiviere Moskau nun Angriffe auf ukrainische Städte, um "die Moral zu brechen", und provoziere den Westen mit Luft- und Sabotageoperationen. "Russlands Verhalten wird unweigerlich riskanter und aggressiver werden, solange es keine untragbaren Kosten spürt."
Die entscheidende Frage laute nun, so der IISS-Experte: Wird Europa bereit sein, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten zu reagieren?