Wie eine riesige Anakonda zieht sich die Fahne Serbiens durch eine kosovarische Straße. Es ist symbolhaft für den anhaltenden Konflikt zwischen den beiden Staaten: Bis heute will Serbien den jungen Staat Kosovo nicht anerkennen. Einst war er eine serbische Provinz und von diesem Gedanken können sich die Serben wohl nicht lösen.
Immer wieder entflammt der Konflikt und sorgt für gewaltsame Ausschreitungen.
So wie jüngst im Norden des Kosovo in der Stadt Zvečan: Demonstrierende hielten dort eine riesige serbische Flagge. Hunderte von serbisch-stämmigen Menschen versammelten sich vor dem Rathaus und protestierten gegen die albanisch-stämmigen Bürgermeister, die vergangene Woche ihr Amt angetreten hatten – woraufhin es mehrmals zu gewaltsamen Zusammenstößen kam.
Was genau passiert ist und wie es jetzt weitergeht, erklärt euch watson in sechs Punkten.
Ursache ist die Wahl albanisch-stämmiger Bürgermeister. Im April traten auf Geheiß Belgrads die serbischen Amtsträger zurück. Darauf griffen militante Serben die Kosovo-Sonderpolizei an, die im Ort Zvečan den neu gewählten albanisch-stämmigen Bürgermeister ins Amt eskortierte.
Die Nato-geführte Friedenstruppe KFOR, die mit UN-Mandat für Sicherheit sorgen soll, rückte ein, um die Gemeindeämter in Zvečan sowie zwei weiteren Orten zu schützen.
Dann eskalierte die Situation vollends.
Serben versammelten sich erneut zu Protesten gegen die neuen Bürgermeister und verlangten den Abzug der kosovarischen Polizei. Die KFOR-Einheit setzte zur Auflösung der Proteste Tränengas ein. Darauf verschärfte sich die Situation. Serb:innen warfen Blendgranaten und Steine auf die Soldat:innen und griffen sie mit Schlagstöcken an. 30 Soldat:innen und etwa 50 serbische Zivilist:innen wurden verletzt.
Mit insgesamt 80 Verletzten markieren die aktuellen Ausschreitungen einen Höhepunkt des gewaltsamen Konflikts der vergangenen Jahre in dem kleinen Balkanland.
Grund der Abneigung der Serb:innen gegen die neuen Politiker:innen: Die Bürgermeister:innen sind Albaner:innen und gehen aus Wahlen hervor, die von serbischer Seite auf Geheiß Belgrads boykottiert wurden. Deshalb lag die Wahlbeteiligung auch bei unter vier Prozent. Die serbischen Amtsträger:innen waren zurückgetreten, weil die kosovarische Regierung in Pristina endlich durchsetzen wollte, dass die Serb:innen im Nord-Kosovo kosovarische Kfz-Kennzeichen verwenden und keine serbischen.
Zum Hintergrund: Im Kosovo lebt heute fast mehrheitlich eine ethnisch-albanische Bevölkerung. Im eher ländlich geprägten Norden des Landes an der Grenze zu Serbien hingegen rund 50.000 Serb:innen – und die wollen mit dem Staat Kosovo nichts zu tun haben.
Kosovo gehörte einst zu Serbien und Jugoslawien. Im Gefolge von Jugoslawiens Zerfall kam das Land unter UN-Verwaltung und erklärte sich 2008 für unabhängig. Bis heute erkennt das Nachbarland Serbien den Staat Kosovo jedoch nicht an. Auch andere Länder, darunter Serbiens Verbündete China und Russland, erkennen die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an.
Der Kreml stellt sich hinter Serbien. "Wir unterstützen zweifellos Serbien und die Serben. Wir meinen, dass die legitimen Rechte und Interessen der Kosovo-Serben beachtet und gewahrt werden müssen", sagt Kremlsprecher Dmitri Peskow der russischen Nachrichtenagentur Interfax zufolge.
Russland werde die Lage sehr aufmerksam weiter verfolgen. Zuvor hatte schon Russlands Außenminister Sergej Lawrow die Zuspitzung des Konflikts im Kosovo alarmierend genannt. Das russische Außenministerium forderte die EU dazu auf, die Schuld für die Gewalt nicht den Serben zuzuschieben.
Angesichts der Spannungen im Kosovo stellt der russische Außenminister Sergei Lawrow erneut die Unabhängigkeit des Landes infrage. Zudem betont er, dass die serbischen Streitkräfte in Einsatzbereitschaft versetzt wurden und sich an der Landesgrenze befinden. "Entscheidungen obliegen dem Präsidenten Serbiens, dem serbischen Volk und den Serben, die sich im Norden der autonomen Provinz Kosovo für ihre Rechte einsetzen", zitiert die russische Botschaft Lawrow auf Twitter.
Zum Hintergrund: Serbiens Präsident Aleksandar Vučić trägt etwa die EU-Sanktionen gegen Russland nicht mit und hat ein EU-vermitteltes Rahmenabkommen mit dem Kosovo vom Februar nie unterzeichnet.
Die westlichen Staaten erhöhen den Druck auf die Konfliktparteien. Deutschland und Frankreich fordern zur Beruhigung der Lage Neuwahlen in vier mehrheitlich serbischen Gemeinden. Der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vermitteln am Rande des Gipfels der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) in der Republik Moldau zwischen der kosovarischen Präsidentin Vjosa Osmani und Serbiens Präsidenten Vučić.
"Es ist jetzt wichtig, dass alle Beteiligten alles dafür tun, dass es zu einer Deeskalation kommt", sagt Scholz (SPD). Zudem sei es wichtig, dass sich die Bürger:innen vor Ort "an den Wahlen beteiligen können". Das Ziel sei es, aus "dieser Spirale wieder herauszukommen".
US-Außenminister Antony Blinken ruft die Regierungen des Kosovo und Serbiens dazu auf, "unverzüglich Schritte zur Deeskalation der Spannungen" zu unternehmen. Am Rande eines informellen Treffens der Nato-Außenminister im norwegischen Oslo weist er darauf hin, dass der Konflikt die Bestrebungen beider Länder zur Annäherung an die EU gefährde. Sowohl Serbien als auch Kosovo wollen der EU beitreten.
US-Botschafter Jeff Hovenier gibt eine "Bestrafung" der Kosovaren bekannt: Sie dürfen nicht am US-Militärmanöver Defender Europe 2023 teilnehmen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigt unterdessen die Entsendung weiterer 700 Soldat:innen an. Bislang sind 3800 KFOR-Soldat:innen im Kosovo stationiert, darunter 70 deutsche.
Stoltenberg habe sich mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell beraten. Auf Twitter schreibt er: "Pristina und Belgrad müssen sich jetzt an dem von der EU geführten Dialog beteiligen, da dies der einzige Weg zu Frieden und Normalisierung ist." Kosovo muss laut Stoltenberg deeskalieren und darf keine einseitigen, destabilisierenden Schritte unternehmen.
Kosovos Präsidentin Vjosa Osmani sagt zur Forderung Deutschlands und Frankreichs, sie sei "bereit", diese Möglichkeit "in Betracht zu ziehen". Sie habe ihre Gesprächspartner:innen darüber informiert, dass das kosovarische Recht eine Wahlwiederholung erlaube. Dafür müsse ein Fünftel der Wähler:innen in einem Distrikt ein entsprechendes Verfahren anstoßen. Dafür sei aber "Beteiligung von deren Seite" nötig.
Ihr serbischer Kollege Vučić sei gebeten worden, "sich nicht einzumischen, die Bürger nicht unter Druck zu setzen". Es habe aber "keine Antwort von seiner Seite" gegeben, meint Osmani. Sie hoffe jedoch, dass die Bürger:innen "von ihren Rechten Gebrauch machen können, die im Kosovo durch die Verfassung garantiert sind".
Obwohl Vučić die serbischen Streitkräfte in höchste Bereitschaft versetzt hat, geben Expert:innen Entwarnung. Demnach soll der serbische Präsident keine offene Konfrontation mit der Nato im Kosovo wagen.
Zugleich dient ihm die Spannung im Süden dazu, die Macht im eigenen Land stabil zu halten – auch im Lichte der jüngsten Massenproteste in der Hauptstadt Belgrad gegen seine autoritäre Herrschaft.
(Mit Material der AFP)