"Mehr Fortschritt wagen" und "Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit", das sind der Titel und der Untertitel des Koalitionsvertrags, den SPD, Grüne und FDP am Mittwoch vorgestellt haben.
Ziemlich genau zwei Monate nach der Bundestagswahl haben die Ampel-Parteien ein 177 Seiten langes Papier vorgestellt, das die Grundlage sein soll für die Arbeit der nächsten Bundesregierung.
Dem Vertrag müssen jetzt für die noch die Delegierten auf zwei Sonderparteitagen von SPD und FDP zustimmen – und die Mitglieder der Grünen.
watson hat analysiert, was im Koalitionsvertrag zu vier Themen steht:
Außerdem haben wir uns angeschaut, wie optimistisch die Koalitionspartner in die Zukunft blicken – und auf die Aufgaben, die Deutschland in den kommenden Jahren zu bewältigen hat.
41 Seiten lang ist das Kapitel "Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft", das ist fast ein Viertel des gesamten Koalitionsvertrags. Es ist das zweite thematische Kapitel. In ihm fassen SPD, Grüne und FDP zusammen, was sie politisch dazu beitragen wollen, dass Deutschland den Wandel zu einem klimaneutralen Land schafft.
Im Kapitel zum Klimaschutz ist die "Einhaltung des 1,5-Grad-Pfads" ausdrücklich festgehalten: als "Transformationsprozess", vor dem Deutschland stehe.
Die Ampelkoalition verspricht Einsatz dafür, dass der ökologische Wandel in Deutschland einhergeht mit wirtschaftlichem Erfolg. Im Koalitionsvertrag stehen dazu folgende mehr oder weniger konkrete Versprechen für die kommenden Jahre:
Für den Umwelt-, Natur- und Tierschutz versprechen SPD, Grüne und FDP unter anderem:
Um die Energiewende voranzutreiben, verspricht die Ampel-Koalition:
Der Kampf gegen das Artensterben wird im Koalitionsvertrag ebenfalls erwähnt, "hohe Aufmerksamkeit und politisches Handeln" wird versprochen, um hier voranzukommen.
Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und eine starke Zivilgesellschaft zu schaffen, wollen SPD, Grüne und FDP bis 2023 ein Demokratiefördergesetz einbringen. Damit sollen Beratungs-, Präventions- und Ausstiegsarbeit ebenso wie das Empowerment von Betroffenengruppen gestärkt werden.
"Rechtsextremismus ist derzeit die größte Bedrohung unserer Demokratie", fassen die Koalitionäre auf Seite 107 des Vertrags zusammen. Deshalb wollen sie verfassungsfeindlichen und gewaltbereiten Bestrebungen entschieden entgegentreten. "Dazu bedarf es einer Gesamtstrategie auf nationaler und europäischer Ebene aus Prävention, Deradikalisierung und effektiver Gefahrenabwehr", schreiben sie weiter. Auch Rassismus im Allgemeinen soll stärker entgegengetreten werden. Im Vertrag liest sich das so:
Der Begriff "Rasse" soll außerdem aus Artikel 3 des Grundgesetzes gestrichen werden. In ihm sind die Grundrechte auf Gleichheit vor dem Gesetz und Diskriminierungsfreiheit festgeschrieben.
Um Deutschland als Einwanderungsland zu stärken und die Gesamtbevölkerung entsprechend zu repräsentieren, soll in der Bundesverwaltung und in Unternehmen mit Bundesbeteiligung eine Diversity-Strategie mit konkreten Fördermaßnahmen eingeführt werden.
Außerdem soll das Staatsangehörigkeitsrecht modernisiert werden: Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit soll leichter und eine Mehrfachstaatsangehörigkeit möglich werden.
Neben der Ehe soll es künftig auch die Verantwortungsgemeinschaft geben. Damit sollen volljährige Personen jenseits der Ehe eine Möglichkeit bekommen, füreinander Verantwortung zu übernehmen. Vereinbarungen der rechtlichen Elternschaft sollen bereits vor der Empfängnis geklärt werden können. Konkret schreiben die Parteien im Vertrag:
Auch die Queer-Community soll besser geschützt werden. Dafür soll ein nationaler Aktionsplan zur Akzeptanz und zum Schutz der sexueller und geschlechtlicher Vielfalt erarbeitet und finanziert werden.
Gerade in der Jugendarbeit und an Schulen soll sexuelle Akzeptanz ein größeres Thema werden. das Transsexuellengesetz soll durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden. Auch das Blutspendeverbot für homosexuelle Männer und Trans*-Personen soll "nötigenfalls auch gesetzlich" abgeschafft werden.
Um Inklusion besser zu leben, soll Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen Lebens barrierefrei werden. Ebenso soll die Arbeitsmarktintegration gefördert werden: Betriebe, die trotz der Beschäftigungspflicht keine Menschen mit Behinderung einstellten, sollen eine Ausgleichsabgabe zahlen
"Die Gleichstellung von Frauen und Männern muss in diesem Jahrzehnt erreicht werden", steht auf Seite 114 des Koalitionsvertrags. Dafür soll beispielsweise die Gleichstellungsstrategie des Bundes weiterentwickelt werden: SPD, Grüne und FDP streben an, einen Gleichstellungs-Check für zukünftige Gesetze und Maßnahmen einzuführen.
Außerdem soll der Gender-Data-Gap geschlossen werden. Den gibt es zum Beispiel im medizinischen Bereich: Das bedeutet, dass zu wenige Daten von Frauen erhoben wurden, um wirklich zu wissen, welche Auswirkungen medizinische Behandlungen auf den Körper der Frau haben können.
Die Lohnlücke soll ebenfalls geschlossen werden. Dafür soll das sogenannte Entgelttransparenzgesetz weiterentwickelt werden und die Durchsetzung gestärkt werden. So soll das Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" durchgesetzt werden.
Auch sollen Familien besser unterstützt werden, wenn sie sich die Sorgearbeit partnerschaftlich aufteilen möchten. Dafür soll das Elterngeld vereinfacht und digitalisiert werden. Außerdem soll die Möglichkeit zur "Brückenteilzeit" leichter wahrgenommen werden können.
Um Gewalt gegen Frauen einzudämmen, sollen Frauenhäuser verlässlich finanziert werden. Die Istanbul-Konvention – also das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – soll auch im digitalen Raum umgesetzt werden. Zuständig dafür sein soll eine staatliche Koordinierungsstelle.
Frauen soll es außerdem leichter gemacht werden, einen Abtreibungstermin zu bekommen: So soll die Schwangerschaftskonfliktberatung künftig online möglich und der Schwangerschaftsabbruch Teil der medizinischen Ausbildung sein. § 219a im Strafgesetzbuch, der die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt, soll gestrichen werden.
Um sicherzustellen, dass Frauen ihren Termin für einen Schwangerschaftsabbruch auch wahrnehmen können, planen die Parteien obendrein folgendes:
Künftig soll außerdem an Verhütungsmitteln für alle Geschlechter geforscht werden. Menschen, die gerne Kinder bekommen möchten, es aber nicht können, sollen ebenfalls besser unterstützt werden: Der Bund will sich finanziell beteiligen. Unabhängig von sexueller Identität oder Familienstand. Auch die Altersbeschränkungen sollen überprüft werden.
Wie schon im SPD-Wahlprogramm lässt sich auch im Koalitionsvertrag das Wort Respekt immer wieder finden – insgesamt 10 Mal haben es die Sozialdemokraten untergebracht. Und aus Respekt wollen SPD, Grüne und FDP Chancengleichheit schaffen.
Und damit wollen sie schon bei den jüngsten in der Gesellschaft starten: Aufstieg durch Bildung, das ist die Devise. Und dafür soll mehr Geld in die Schulen gesteckt werden. Im Vertrag steht:
Bund und Länder sollen dafür künftig enger zusammenarbeiten. Bisher war Bildung allein Ländersache. Bis zum Ende der Legislaturperiode soll zum Beispiel gemeinsam mit den Ländern ein Qualitätsentwicklungsgesetz mit bundesweiten Standards entwickelt werden, dass die Zustände in Kitas regelt. Auch sollen die Kindertagesbetreuung und das Angebot an "Sprach-Kitas" ausgebaut werden.
Um allen Kindern unabhängig ihres Wohnortes und der familiären Strukturen eine gute Bildung zu ermöglichen, will die Ampel allgemeine und berufsbildende Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler besonders fördern.
Die Schulen insgesamt sollen digitalisiert werden. Dafür soll der Digitalpakt 2.0 bis 2030 eingesetzt werden: in Rahmen dessen können Schulen alte Technik tauschen und neue anschaffen. Auch die digitale Lehre mittels Plattformen soll weiterentwickelt werden.
Auch die Ausbildung soll gefördert werden – so sollen auch schulische Ausbildungen, die ohne einen Betrieb stattfinden, finanziell vergütet werden. Das BAföG soll reformiert werden: Es soll in Zukunft unabhängig vom Gehalt der Eltern ausgezahlt werden, auch die Altersgrenzen sollen angehoben und ein Studienfachwechsel erleichtert werden. Außerdem soll es künftig nicht nur Auszubildenden und Studierenden zur Verfügung stehen. Stattdessen soll das sogenannte "Lebenschancen-BAföG" beantragt werden können für Weiterbildungen, auch unabhängig von berufs- und abschlussbezogener Qualifikation.
Kinderrechte sollen im Grundgesetz verankert werden. Dafür wollen SPD, Grüne und FDP einen Gesetzentwurf vorlegen. Bisher hatte sich die Union dagegen versperrt. Für eine Grundgesetzänderung braucht die Ampel aber wohl die Zustimmung der Unionsparteien: Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat nötig.
Außerdem soll eine Kindergrundsicherung eingeführt werden: Kindergeld, Leistungen der Sozialhilfe für Kinder, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets, sowie der Kinderzuschlag sollen künftig gebündelt direkt bei den Kindern ankommen. Bestehen soll der Betrag aus zwei Teilen: Dem einkommensunabhängigem Garantiebetrag, der für alle Kinder und Jugendlichen gleich hoch ist und einem vom Einkommen der Eltern abhängigen Zusatzbetrag.
"Jede Arbeit verdient Respekt und Anerkennung", heißt es auf Seite 65 des Koalitionsvertrags. Um diesen Respekt und die Anerkennung zu verdeutlichen, wollen die Parteien den Mindestlohn auf 12 Euro pro Stunde anheben und das Arbeitsrecht modernisieren. So soll es "Sicherheit und fair ausgehandelte Flexibilität" ermöglichen. Konkret bedeutet das: Obwohl die Parteien am 8-Stunden-Tag festhalten wollen, sollen Arbeitnehmende die Möglichkeit haben, ihre Arbeitszeiten flexibler einzuplanen – allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen.
Ein Bürgergeld soll außerdem Hartz-IV ablösen. Künftig sollen Beratungen "auf Augenhöhe" möglich sein: Die Kostenübernahme für die Miete soll nicht länger Teil des Sanktionskatalogs sein, ein Kompetenzfeststellungsverfahren soll Stärken und Entwicklungspotenziale ermitteln. Außerdem soll es Kindern und Jugendlichen in Zukunft möglich sein, eigenes Geld zu verdienen, ohne befürchten zu müssen, dass ihren Eltern das Geld gestrichen wird. Auch für Auszubildende soll der Freibetrag erhöht werden.
Eine Bund-Länder-Gruppe soll sich des Problems der Obdachlosigkeit annehmen.
Auf 177 Seiten Koalitionsvertrag kommt das Wort "Chance" 51-mal vor. Durch das Werk zieht sich die Bemühung von SPD, Grünen und FDP, Optimismus und Mut für die Zukunft zu verbreiten.
Mit Blick auf Probleme wie Corona, die Klimakrise, den Systemwettstreit mit autoritären Staaten steht auf Seite 4 des Vertrags:
Optimismus wollten auch die Spitzenpolitikerinnen und -Politiker der drei Parteien verbreiten, die das Programm am Mittwoch vorstellten.
"Wir wollen uns etwas zutrauen" und "Wir wollen mehr Fortschritt wagen", sagte der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Grünen-Chef Robert Habeck meinte, die Ampelparteien legten "ein Dokument des Mutes" vor – und Gegensätze zwischen drei Parteien könnten "überwunden werden durch eine lernende Politik".
FDP-Chef Christian Lindner meinte: "Was jetzt gebildet wird, ist eine Koalition der Mitte, die das Land nach vorne bringt."
Den optimistischen Tonfall haben die drei Parteien damit gesetzt. Dem müssen sie jetzt gerecht werden.