Oft halten sie Rasha Nasr noch immer für die Praktikantin. Dabei könnte sie, wenn es gut läuft, in ein paar Wochen über Dinge entscheiden, die jeden Menschen in Deutschland betreffen. "Die Leute unterschätzen mich, wegen meines Alters und weil ich eine Frau bin, aber ich habe wirklich hart gearbeitet, um da zu sein, wo ich jetzt bin", sagt sie. Nasr kandidiert für die SPD bei der Bundestagswahl am 26. September.
Ihr eigenes Leben bestimmt ihre politischen Ziele: der Kampf gegen Rassismus, gegen das Ost-West-Gefälle in Deutschland und für mehr soziale Gerechtigkeit.
"Ich habe so viele diskriminierende Faktoren, die Leute können sich wunderbar an mir abarbeiten", sagt die 29-jährige Tochter syrischer Einwanderer und stolze Ostdeutsche, wie sie selbst sagt. Sie zitiert eine Geschichte, die sie für die Webseite "Social Debates" geschrieben hat: "Ich bin Rasha und ihr könnt mir gar nichts."
Das Ziel: mehr Junge, Menschen mit Migrationsgeschichte, mehr Nicht-Akademiker in den Bundestag
Nasr gehört zu der Handvoll Kandidaten, die die Graswurzelbewegung "Brand New Bundestag" (BNB) unterstützt. Ziel von BNB: mehr Menschen mit Migrationsgeschichte ins Parlament verhelfen, mehr Personen ohne akademischen Abschluss, mehr Junge, mehr Menschen aus Ostdeutschland. Kurz: das Parlament diverser gestalten.
Maximilian Oehl, Mitbegründer von BNB, sagt dazu:
"Als ich in die Politik kam, habe ich gemerkt, dass Personalentscheidungen oft von innerparteilichen Netzwerken abhängen – also vor allem davon, wen man kennt. Das hat mich zunächst etwas irritiert zurückgelassen."
Dann hat er eine TV-Dokumentation über die US-amerikanische Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez – abgekürzt AOC – entdeckt. Sie wurde zum politischen Star, nachdem sie 2018, in den Vorwahlen der New Yorker Demokraten zu den Kongresswahlen, überraschend gegen einen einflussreichen amtierenden Abgeordneten gewann und später zum jüngsten Mitglied des US-Kongresses wurde. AOC hatte das auch einer Bewegung namens "Brand New Congress" zu verdanken. Aktivist Oehl sagt: "Ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie man so etwas in Deutschland umsetzen könnte."
Mittlerweile hat die deutsche Bewegung "Brand New Bundestag" rund 210 Mitarbeiter – wenn man alle Ehrenamtlichen mitzählt.
Rasha Nasr kandidiert für den Bundestag.bild: julian hoffmann
BNB organisiert Workshops für ihre Kandidaten, hilft ihnen beim Wahlkampf, bringt sie mit wichtigen politischen Akteuren in Kontakt. Vor allem aber hilft sie ihnen aber dabei, Aufmerksamkeit zu bekommen.
Die Arbeit der Initiative trägt sich durch Spenden, vor allem von Privatpersonen. Neben Geld von Stiftungen und aus Fördermitteln benötigt die Organisation vor allem Menschen, die an das gemeinsame Ziel glauben.
Die Initiative versucht erst gar nicht, unparteiisch zu sein
Bei einer Organisation, die Politikern Geld gibt, stellt sich schnell die Frage, ob sie versteckte Beweggründe hat: beispielsweise das Abstimmverhalten von Abgeordneten zu beeinflussen. Die Mitwirkenden bei "Brand New Bundestag" versuchen erst gar nicht, unparteiisch zu sein. Sie haben klare politische Forderungen.
BNB unterstützt nur Kandidaten, die sich in bestimmten Bereichen engagieren: Kampf gegen den Klimawandel, für soziale Gerechtigkeit, für eine ökologische Wirtschaft. In den Worten von Mitbegründer Oehl: "Menschen, die sich nicht mit unseren Forderungen identifizieren, hätten kein Interesse daran, mit uns zusammenzuarbeiten."
"Es ist offensichtlich, dass wir vor allem mit SPD und den Grünen große Schnittmengen haben."
Maximilian Oehl, Mitbegründer von "Brand New Bundestag"
So begründen die BNB-Organisatoren auch, dass sie nur Politiker von SPD, Bündnis90/Die Grünen und Linken sowie freie Kandidaten unterstützen. Oehl sagt, fast entschuldigend: "Wir scouten durchgehend Leute, auch von der FDP und der Union, aber es ist offensichtlich, dass wir vor allem mit SPD und den Grünen große Schnittmengen haben." Er sagt aber auch: "Wir arbeiten nicht mit der AfD zusammen."
Der Auswahlprozess hat sich seit der BNB-Gründung im Jahr 2019 verändert: Zunächst konnte jeder Bürger einen passenden Kandidaten vorschlagen, 100 Vertreter verschiedener Parteien aus allen Gesellschaftsschichten waren in der engeren Auswahl. BNB hat dann eine Jury zusammengestellt: aus Leuten, "die durch ihr gesellschaftliches Engagement Aufmerksamkeit erregt haben", wie Oehl sagt. Diversität war das zweite große Auswahlkriterium.
Inzwischen scoutet BNB selbst Politiker
Damit gewann die Organisation vielfältige Jurymitglieder: Inklusionsaktivist Raúl Krauthausen gehört dazu, die Schriftstellerin und Aktivistin Kübra Gümüşay, die Journalistin Anna Dushime.
Die Kandidaten, die Unterstützung von BNB wollten, mussten einen Fragebogen ausfüllen und ein Video einschicken, das die Jury dann sichtete. Nach einem persönlichen Interview und einem "Auswahlwochenende" wählte BNB neun Menschen aus.
Seitdem ist die Initiative in der Auswahl flexibler geworden. "In der zweiten und dritten Runde haben wir mehr proaktiv gescoutet, weil wir uns als Organisation entwickelt haben und verstanden haben, mit wem wir arbeiten wollen", erklärt Mitgründer Oehl.
"Auch bei uns sind gesellschaftlich diskriminierte Gruppen immer noch unterrepräsentiert"
Maximilian Oehl, Mitbegründer von "Brand New Bundestag"
Die Bewegung will bei der anstehenden Bundestagswahl wachsen. Damit gefährden sie zumindest grundsätzlich die Bundestagsmandate etablierter Politiker. Oehl sagt aber, er sei überrascht, wie viel positives Feedback aus den Parteien gekommen sei.
Eines fällt schnell auf, wenn man darauf blickt, welche Menschen im aktuellen Bundestag sitzen: Bestimmte Gruppen sind schlecht vertreten. Frauen etwa oder Menschen mit Migrationsgeschichte. "Nur etwa ein Drittel der Abgeordneten sind weiblich, etwa zehn Prozent haben einen Migrationshintergrund", erläutert Isabelle Borucki, Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Siegen, gegenüber watson.
Maximilian Oehl ist einer der Initiatoren von Brand New Bundestag.bild: Malte Windwehr
Borucki unterstreicht aber auch: Abgeordnete können Interessen auch von Menschen vertreten, deren sozialer Gruppe sie nicht angehören. Sie sagt sogar: "Das ist eine Aufgabe des Parlaments." Trotzdem hält sie Initiativen wie "Brand New Bundestag" für sinnvoll. Borucki meint: "Grundsätzlich ist das eine gute Idee und eine Möglichkeit mehr Diversität und auch Flexibilität ins Parlament zu bekommen."
Fast alle Parteien im Bundestag verfolgen zumindest nach eigenen Worten das Ziel, mehr Diversität zu erreichen.
Bei den Grünen sind 57 Prozent der Abgeordneten im Bundestag weiblich. Aus der Parteizentrale heißt es dazu auf Anfrage von watson: "Auch bei uns sind gesellschaftlich diskriminierte Gruppen immer noch unterrepräsentiert." Ein Grünen-Sprecher verweist auf das Vielfaltsstatut der Grünen, durch das Diversität in der Partei garantiert werden soll. Ein Frauenstatut gibt es bei der Partei seit 35 Jahren.
Die SPD verweist auf Anfrage darauf, dass diesmal zur Bundestagswahl besonders viele junge Menschen anträten: 109 Kandidierende unter 40 Jahren, 34 davon sogar unter 30 Jahre. Außerdem hätten 40 Direktkandidierende einen Migrationshintergrund, sagt eine SPD-Sprecherin. Wie viele davon tatsächlich in den Bundestag kommen, bleibt abzuwarten.
Bei der FDP erkennt man zwar das Problem der fehlenden Diversität, ist aber gegen einen Eingriff des Staats. Ein Sprecher meint dazu:
"Nicht alles, was wünschenswert ist, darf auch durch den Staat erzwungen werden: Die Forderung nach paritätischen Wahllisten etwa geht an den Ursachen vorbei und schränkt die Wahlfreiheit der Bürgerinnen und Bürger ein."
Innerhalb der Partei habe man sich dennoch mehr Diversität als Ziel gesetzt, berichtet der Sprecher. Dafür hätten die Liberalen "Workshops und Trainingseinheiten zum Thema Diversity Management" im Angebot, so der Sprecher.
Bei jungen Abgeordneten sieht die FDP zumindest "keine Probleme für den Parlamentsbetrieb".
Auch Nasr musste sich gegen einen älteren Genossen durchsetzen
Union und Linke ließen Anfragen von watson zur Diversität in ihren Bundestagsfraktionen unbeantwortet.
Wenn man die SPD-Kandidatin Nasr fragt, warum viele Teile der Gesellschaft so schlecht im Bundestag repräsentiert sind – sogar bei einer selbsternannt progressiven Partei wie der SPD – ist sie ganz auf BNB-Linie: "Ich glaube, viele Platzhirsche haben ein Problem damit, ihr Mandat aufzugeben."
Auch Nasr musste sich bei ihrer Bundestagskandidatur gegen einen älteren Parteigenossen durchsetzen. Seine Reaktion damals beschreibt sie so: "Der war richtig beleidigt. Sein Vorgesetzter hat sich dann noch mit ihm unterhalten und am Schluss ist er dann doch nicht angetreten."
"Als Soze in Sachsen muss man mir nicht erklären, was kämpfen heißt."
SPD-Kandidatin Rasha Nasr
Der erste Schritt in Richtung Bundestag ist für Rasha Nasr also getan. Maximilian Oehl ist sich sicher, dass sie nicht die einzige erfolgreiche BNB-Kandidatin sein wird.
Er nennt den 27-jährigen Kassem Taher Saleh, der auf Platz vier der sächsischen Landesliste der Grünen steht und damit eine zumindest realistische Chance auf Bundestagsmandat hat.
Die Politikwissenschaftlerin Isabelle Borucki.bild: Bea Roth Photography
Oehl ergänzt, mit Blick auf SPD-Politikerin Rasha Nasr: "Mit ihr war das ähnlich. Ihr Platz war nicht sicher, aber wir haben ihr geholfen."
Tatsächlich stehen Nasrs Chancen gut. Bei der Bundestagswahl 2013 erreichte die SPD in Sachsen noch 16,2 Prozent der Zweitstimmen. Vier Jahre später waren es nur noch 10,5 Prozent. Nach einer Infratest-dimap-Umfrage vom August liegt die SPD aktuell bei 15 Prozent.
Der Erfolg hängt weiter vom Wahlkampf ab
Derzeit sitzen vier sächsische SPD-Bundestagsabgeordnete in Berlin – Nasr ist auf Listenplatz vier. "Ich bleibe realistisch, aber ich will mich auch nicht von irgendwelchen Umfragen einschüchtern lassen", sagt sie und fügt hinzu: "Als Soze in Sachsen muss man mir nicht erklären, was kämpfen heißt."
Ob die Kandidaten Erfolge erzielen, hänge "in erster Linie von den Kandidierenden, deren Kampagnen und den Parteien ab", erklärt Politologin Borucki. Trotzdem bescheinigt sie der Organisation einen gewissen Einfluss: "Wer einzieht und einen Sitz erhält, entscheiden die Wählerinnen und Wähler. Insofern ist die Initiative sicherlich hilfreich, um Aufmerksamkeit zu generieren."
Auf Instagram macht Nasr Politik, indem sie kurze Backvideos postet. Dabei lehnt sie sich auf die Küchenzeile und präsentiert einen Cupcake, verziert mit einem Cookie, auf dem „FGHT RCSM“ steht – übersetzt: Kampf dem Rassismus. Sie spricht über ihre Pläne für ein Bundespartizipationsgesetz, das, wie sie sagt, "dafür sorgen soll, dass auch Menschen mit Migrationsbiografie, Black, Indigenous und People of Color angemessen in Verwaltung und Politik repräsentiert werden", erklärt Nasr.
Nasr ist nach eigener Aussage die erste Person mit Migrationsgeschichte, die in Dresden für den Bundestag kandidiert.
BNB-Mitgründer Oehl will weiter für mehr Diversität in der Politik kämpfen, auch nach der Wahl im September. Er sagt: "Wenn wir das nicht erreichen, riskieren wir ein großes demokratisches Problem. Diversität macht die Demokratie widerstandsfähiger."
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