Triggerwarnung: Im folgenden Text werden Gewalthandlungen geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.
Es sind Bilder, die schwer zu ertragen sind: Ein uniformierter Mann liegt auf dem Boden. Über ihn beugt sich eine Person in Kampfanzug und maskiertem Gesicht. Mit einem Messer enthauptet er den noch lebenden Mann. Der Täter besitzt eine für russische Soldaten typische weiße Kennzeichnung an der Kleidung. Das Opfer trägt eine Uniform, auf der der ukrainische Dreizack und ein Totenkopf zu sehen sind.
Dieses Video, das mutmaßlich die Enthauptung eines ukrainischen Kriegsgefangenen durch Russen zeigen soll, kursiert derzeit in den sozialen Medien. Ein früherer russischer Wagner-Söldner soll unterdessen einen ehemaligen Kameraden als Täter in dem Video identifiziert haben.
Die Authentizität der Aufnahmen ist noch nicht unabhängig bestätigt worden. Unklar ist auch, wo und wann das rund eineinhalbminütige Video entstanden ist. Klar ist jedoch: Es ist nicht der erste sadistische Vorfall.
Immer wieder entsetzen russische Soldaten – darunter auch die brutalen Wagner-Söldner – mit Gräueltaten und Kriegsverbrechen gegen Ukrainer:innen. Was treibt diese Menschen zu solchen Verbrechen an? "Der Krieg ist eine Welt für sich", sagt Militärpsychologe Hubert Annen im Gespräch mit watson.
Wenn ein Soldat einmal die Tötungshemmung überwunden hat, ist der Weg zurück schwierig. "Sie gewöhnen sich an das Töten", erklärt er. Für die bestialischen Verbrechen – wie die Enthauptung mit bloßem Messer – sieht der Dozent von der Militärakademie der ETH Zürich zwei Gründe.
Zum einen nimmt der Experte an, dass solche Taten innerhalb der Gruppe regelrecht angestachelt werden. Nach der Devise: Ich will noch brutaler sein als meine Kameraden. Dadurch erhoffe man sich mehr Respekt und Ansehen innerhalb der Gruppendynamik. "Im Alltag werden solche grausamen Taten sanktioniert, im Krieg oftmals nicht. Im Gegenteil, sie werden auf diese Weise sogar belohnt", sagt Annen. Sprich, sie lösen ein "Belohnungsgefühl" bei den Tätern aus.
Zudem liege vor allem bei der russischen Armee die Hemmschwelle tief, meint der Experte. Denn: Die Brutalität beginnt laut ihm schon während der militärischen Ausbildung.
Laut Annen kommen russische Rekruten bereits während ihrer Ausbildung mit Gewaltaktionen in Berührung. "Sie werden oft von ihren älteren Kameraden misshandelt. Das führt teils auch zu Suizid-Fällen", meint der Militärpsychologe. An einem Beispiel verdeutlicht er die Problematik.
Er sagt:
Wenn schon in der Ausbildung die Gewaltbereitschaft unter Soldaten groß sei, könne man sich vorstellen, wie diese dann im Krieg eskaliere, meint der Experte. Denn die Grundstimmung im Krieg sei: Hier ist alles erlaubt. Annen zufolge sehen sich viele russische Kämpfer offenbar dem Kriegsvölkerrecht nicht verpflichtet – und damit meint er auch die Befehlshaber.
Die grauenvollen Taten der russischen Soldaten werden offenbar geduldet. Und wenn der Chef eben nichts sage, dann müsse es in Ordnung sein. Doch hier sieht Annen durchaus einen zweiten Grund für die schockierenden Aufnahmen: Propagandazwecke.
Erst vor wenigen Monaten kursierte in russischen Telegram-Kanälen ein Video, das die Erschießung des ukrainischen Kriegsgefangenen Oleksandr Matsievskyi durch russische Soldaten zeigt. Der Mann steht in einem Graben und sagt "Ruhm der Ukraine", bevor er durch mehrere Schüsse zu Boden sinkt und reglos liegen bleibt. Anschließend sagt ein Mann auf Russisch "stirb, Arschloch". "Das sind Bilder mit ausgesprochen großer Symbolkraft" meint Annen.
Auf der einen Seite wurde der getötete Soldat wie ein Held im Netz gefeiert, auf der anderen Seite feierten russische User:innen die Tat. Auch das Enthauptungsvideo spaltet die Gemüter: die Reaktionen reichen von Schock bis Freude. Unter dem Video kommentiert eine Person etwa, dass die Aufnahmen sie regelrecht glücklich stimmen.
Laut Annen wollen die Russen mit solchen brutalen Videos ein Zeichen setzen: Schaut, wir sind zu allem fähig. Ihr ergebt euch besser! Das sei Teil der psychologischen Kriegsführung, mit der man den Feind zum Aufgeben bewegen will. Aber das funktioniert anscheinend nicht immer. Der Experte meint:
Hier spiele dann auch das Thema "Rache" eine große Rolle. "Wenn ein Kamerad durch feindliche Hände stirbt, dann werden oftmals Soldaten von ihren Rachegedanken geleitet oder eben verleitet", sagt Annen. Folglich ist nicht auszuschließen, dass auch ukrainische Soldaten "unschöne Aktionen" begehen, um ihre Kameraden zu rächen.
Annen betont erneut, dass der Krieg eine Welt für sich ist: Schlafentzug, Kälte und Nässe, wenig Essen, ständige Alarmbereitschaft sowie Todesangst. "Da sinkt die Moralvorstellung leider rasch", meint der Militärpsychologe. Sprich, man ziehe dann nicht immer die moralischen Wertvorstellungen als oberste oder als wichtigste Entscheidungsgrundlage heran.
Moskau und Kiew beschuldigen sich immer wieder gegenseitig, etwa Kriegsgefangene zu töten. Im März hatte die UNO sowohl Russland als auch der Ukraine vorgeworfen, seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 Kriegsgefangene willkürlich ohne Gerichtsverfahren exekutiert zu haben.
Die brutale Enthauptung des angeblich ukrainischen Soldaten bewerten viele User:innen im Netz als Kriegsverbrechen. Auch die UN-Mission zur Überwachung der Menschenrechte in der Ukraine nennt die Bilder "grauenvoll".
"Leider ist dies kein Einzelfall", erklärt die Mission und verweist auf ein weiteres Video, das "verstümmelte Leichen von offenbar ukrainischen Kriegsgefangenen" zeige. Die UN-Mission verlangt nun Ermittlungen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert die Bestrafung Russlands, während der Kreml in Moskau Zweifel an der Echtheit des Videos äußert. "Wir leben in einer Welt der Fälschungen", sagt Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Auf Twitter macht Selenskyj klar: "Alle müssen reagieren. Jeder Anführer." Die Ukrainer:innen werden nichts vergessen und der russische Terror müsse besiegt werden.
"Die Ukraine durchlebt derzeit einen Sturm der Gefühle", sagt der per Video zugeschaltete Selenskyj bei einem Runden Tisch zur Ukraine während der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Die russische Armee versuche, dieses Ausmaß an Gewalt und Gräueltaten überall in der Ukraine zur Routine werden zu lassen und sei stolz darauf. "Die lange Geschichte der russischen Straflosigkeit muss endlich aufhören", fordert er.
Laut Annen unterstreicht das Enthauptungsvideo für die Ukraine erneut, dass die Russen "Barbaren" seien, die es zu bekämpfen gilt. Die Ukrainer:innen würden sich wohl kaum einschüchtern lassen. "Sie folgen dem Motto: Jetzt erst recht!", meint der Experte.
(mit Material der dpa/afp)