Triggerwarnung: Im folgenden Text werden sexualisierte Gewalthandlungen und deren Folgen für Betroffene geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.
"Das ist der Wille Gottes."
"Niemand glaubt dir!"
Sätze, mit denen Täter ihre Opfer zum Schweigen bringen wollen. Die Psychologin Maria Schefter hört sie oft in ihrer Praxis, wenn sich Menschen ihr anvertrauen und von den traumatisierenden Vorfällen berichten.
"Sexualisierte Gewalt ist ein Problem in vielen Institutionen, wie in Schulen, Sporteinrichtungen und eben auch in der Kirche", sagt Schefter.
Im Gespräch mit watson erklärt die Psychologin, was die Gottesmänner in der katholischen Kirche antreibt, sich an Kindern zu vergehen.
Laut Schefter waren die Täter über viele Jahre in der Kirche sehr gut geschützt. Aber auch innerhalb der Gesellschaft, in der die Gottesmänner ein hohes Ansehen genießen. "Sie werden verehrt und idealisiert, in ländlichen Regionen sicher noch mehr als in den Städten", sagt die Psychologin. Die Menschen schenken ihnen ihr Vertrauen und sehen sie als Personen mit hohen moralischen Werten. Wie könnte so ein Mann ein Kind missbrauchen? Für viele unvorstellbar.
Dazu kommt, dass Gewalt gegen Kinder lange Zeit als ein legitimes Erziehungsmittel angesehen wurde. "Der Schutz von Kindern ist erst mit den 1980er Jahren langsam ins Bewusstsein der Gesellschaft gerückt", meint Schefter.
So stand über Jahrzehnte auch in der Kirche beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch nicht der Schutz der Kinder im Fokus, sondern die Unfehlbarkeit der Kirche und ihrer Vertreter. "Auch wenn das absolut grausam erscheint, wurden Täter so über Jahrzehnte besonders geschützt", sagt die Psychotherapeutin.
Jahrzehntelang sei die Kirche den Verdachtsfällen nicht nachgegangen – bis heute. Das zeigt der Fall des verstorbenen Papstes Benedikt XVI.
Vor einem Jahr erschien das Gutachten über Fälle von sexualisierter Gewalt im Erzbistum München und Freising, das die katholische Kirche erschütterte.
Das vom Bistum bei der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) in Auftrag gegebene Gutachten geht von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern aus – und von einem weit größeren Dunkelfeld, in das nun aber womöglich auch dank der Studie mehr Licht fällt.
Das Münchner Missbrauchsgutachten bringt aber noch etwas anderes zutage: In dieser Zeit wurden insgesamt vier Missbrauchstäter wieder in der Seelsorge eingesetzt – und das offenbar unter der Obhut von Papst Benedikt XVI. Damals war er der Münchner Erzbischof. Es wurde ein Gerichtsverfahren gegen ihn eingeleitet, das aber vorläufig ausgesetzt wurde.
Die Anwaltskanzlei von Papst Benedikt XVI. habe beantragt, das Verfahren pausieren zu lassen, bis ein Rechtsnachfolger feststehe. Das Verfahren gegen andere beklagte Kirchenverantwortliche laufe aber weiter. Ziel der Klage ist unter anderem, festzustellen, ob Bistumsverantwortliche Taten vertuscht und so weitere Taten möglich gemacht haben.
"Die Täter hatten über viele Jahre in der Kirche oftmals keine Konsequenzen zu befürchten, weder kirchlich-disziplinarische noch strafrechtliche", meint Schefter. Dadurch sinke die Hemmschwelle der Männer. Hinzu kommt, dass die Kinder in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Tätern stehen. Schefter sagt:
Die Ursache liege meist sowohl in den Prägungen aus der Kindheit und Jugend der Täter als auch in den strukturellen Rahmenbedingungen.
Schefter zufolge haben die Täter teilweise selbst seelische, physische oder sexualisierte Gewalt, Unterwerfung und Kontrolle erlebt, die mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden waren. Um sich daraus zu befreien, übernahmen sie Verhaltensweisen der früheren Täter.
"Um nicht hilflos zu sein, bin ich mächtig. Um nicht Opfer zu sein, werde ich Täter", erklärt die Psychologin die Mechanismen. Die Täter schützenden Strukturen der katholischen Kirche, also das Machtgefälle, das Abhängigkeitsverhältnis der Kinder und Jugendlichen, das Schweigen und Nichtverfolgen der Taten, erhöhen dann die Wahrscheinlichkeit sexuell missbräuchlichen Verhaltens.
Ein Merkmal sexuellen Missbrauchs in der Kirche sei, dass dem sexuellen Missbrauch häufig ein spiritueller Missbrauch vorausgeht. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen werden mit spirituellen, religiösen Gottesbildern und Geboten unter Druck gesetzt. Dadurch sollen sie sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, die den Zielen und Wünschen des Geistlichen diene. Da könne es zum Beispiel heißen: "Was ich mit dir tue, zeugt von der Liebe Gottes.", "Du musst dich dem Willen Gottes verschreiben."
Dieses perfide Vorgehen erzeugt laut Schefter größte innere Not und Ausweglosigkeit, die noch dadurch vergrößert werde, dass potenzielle Auswege gezielt versperrt werden, wie etwa durch:
Ohne Unterstützung können Kinder und Jugendliche da keinen Ausweg finden.
Auf die Frage, wie sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche entgegengewirkt werden könnte, antwortet Schefter:
Innerhalb der Gesellschaft gebe es noch immer ein großes Verleugnen und Verdrängen. "Dabei werden noch heute oft die Opfer anstelle der Täter angezweifelt, beschuldigt oder sogar angegriffen", sagt Schefter. Damit werden die Betroffenen oft noch einmal traumatisiert.
Es gibt viel anzupacken in der katholischen Kirche. Das sieht wohl auch der Münchner Kardinal Reinhard Marx so.
"Für das damit verbundene Leid werde ich immer in der Verantwortung stehen und bitte darum nochmals um Entschuldigung", sagt Marx ein Jahr nach der Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens. "Ich kann Geschehenes nicht rückgängig machen, aber jetzt und zukünftig anders handeln. Und das tue ich."
Dass die Perspektive der Betroffenen anfänglich zu wenig berücksichtigt worden sei, "war unser größtes Defizit. Das müssen wir als Kirche, das muss ich als Erzbischof selbstkritisch einräumen". Auch ein Jahr nach dem Gutachten sei das Entsetzen über die Fälle groß. "Der Schrecken ist geblieben", sagt Marx. "Missbrauch ist und bleibt eine Katastrophe."
(Mit Material der dpa)