Der russische Präsident Wladimir Putin droht mit der Anwendung "aller Instrumente".Bild: ROPI / CB
Analyse
Im russischen Staatsfernsehen werden konkrete Atomangriffe auf Europa skizziert. Wäre das technisch überhaupt möglich? Und wie realistisch ist ein Angriff überhaupt? Eine Einordnung.
05.05.2022, 10:1610.06.2022, 11:24
Corsin Manser / watson.ch
Im russischen Fernsehen werden apokalyptische Szenarien verbreitet. "Wir könnten Großbritannien auch auf den Meeresgrund stürzen, mit Russlands unbemanntem Unterwasserfahrzeug Poseidon", drohte Dimitri Kisseljow am Sonntagabend im russischen Staatssender "Rossija1". "Die Explosion dieses thermonuklearen Torpedos vor der britischen Küste würde eine 500 Meter hohe, radioaktiv verseuchte Tsunamiwelle auslösen, die über die britischen Inseln hinwegrollt", sagte der Fernsehmoderator.
Im russischen Fernsehen wird aktuell fast täglich über nukleare Erstschläge gegen westliche Staaten gesprochen. Vergangene Woche wurden nukleare Angriffe auf Berlin, Paris und London skizziert, welche von Kaliningrad gestartet würden. In 202 Sekunden wäre London getroffen, in 200 Sekunden Paris und Berlin wäre in 106 Sekunden erreicht. "Eine 'Sarmat'-Rakete und die britischen Inseln werden nicht mehr sein", sagte der geladene Vorsitzende der nationalistischen Rodina-Partei, Alexej Schurawljow.
Nicht nur im Fernsehen wird offen mit einem Atomschlag gedroht. Auch der Präsident macht mit. Putin meinte zum Krieg in der Ukraine kürzlich, dass Russland bei einer Einmischung von außen "blitzschnell" reagieren werde. "Wir haben dafür alle Instrumente", so der Kremlchef. "Wir werden nicht prahlen. Wir werden sie anwenden, wenn es nötig ist. Und ich will, dass alle das wissen."
Könnte Russland solche Atomangriffe durchführen?
Alles nur leere Drohungen oder ist Russland tatsächlich in der Lage, Ziele wie London oder Berlin mit Atomwaffen anzugreifen? Schauen wir uns die Unterwasserdrohne Poseidon und die Sarmat-Rakete genauer an, die im russischen Fernsehen demonstriert wurden.
Die Poseidon-Drohne wurde im Jahr 2015 zum ersten Mal präsentiert. Nach russischen Angaben kann das unbemannte Fahrzeug auf bis zu 1000 Meter abtauchen und mehrere Tausend Kilometer zurücklegen. Die Waffe wäre kaum abzufangen.
Laut russischen Angaben kann die Poseidon Nuklearsprengköpfe mit einer Explosionskraft von bis zu 100 Megatonnen tragen. Die Atombombe, welche die USA über Hiroshima gezündet hatte, verfügte eine Sprengkraft von 13 Kilotonnen. Klingt erstmal furchterregend, doch es gibt schwerwiegende Zweifel an den russischen Darstellungen.
Die Unterwasserdrohne Poseidon ist etwa 20 bis 24 Meter lang und könnte etwa 100 Tonnen wiegen.Bild: imago stock&people / ITAR-TASS
Die US-Geheimdienste gehen davon aus, dass die Poseidon-Drohne noch gar nicht einsatzfähig ist. Demnach ist dies erst 2027 der Fall. Auch über die Explosionskraft gibt es verschiedene Angaben. Während die Russen von 100 Megatonnen sprechen, geht Marineexperte H I Sutton von lediglich 2 Megatonnen aus. Dies würde keine Tsunami-Welle von 500 Metern Höhe auslösen.
Die Nato und Großbritannien müssten die Poseidon-Drohne aber ernst nehmen, rät Sutton. "Sie droht, Küstenstädte zu verwüsten, und ist eine Bedrohung für das gesamte Vereinigte Königreich. Sie wird sehr schwer zu bekämpfen sein und es wird neue Waffen erfordern, um sie abzufangen."
Kommen wir zur Sarmat-Rakete. Das russische Verteidigungsministerium prahlte kürzlich: "Sarmat ist die leistungsstärkste Rakete mit der größten Reichweite zur Zerstörung von Zielen in der Welt." Die Sarmat hat eine Reichweite von 18.000 Kilometern, womit Russland über den Süd- und Nordpol angreifen und Ziele weltweit erreichen kann. Die 35 Meter lange Interkontinentalrakete kann bis zu 15 nukleare Sprengköpfe tragen. Erst vor zwei Wochen führte Russland nach eigenen Angaben einen erfolgreichen Test durch.
Die Sarmat-Rakete bei einem Teststart Ende April, veröffentlicht vom russischen Verteidigungsministerium.Bild: www.imago-images.de / imago images
"Das ist eine wirklich einzigartige Waffe, die das Kampfpotenzial unserer Streitkräfte stärken wird und verlässlich die Sicherheit Russlands schützt vor äußeren Bedrohungen", freute sich Wladimir Putin. Die Waffe könne alle Arten der Raketenabwehr überwinden und zwinge "jene zum Nachdenken, die im Feuereifer einer abgebrühten, aggressiven Rhetorik versuchen, unser Land zu bedrohen", sagte er. Noch ist die Sarmat-Rakete aber nicht einsatzfähig. Die russischen Streitkräfte verkündeten, sie im Herbst dieses Jahres in den Dienst zu stellen.
"Kein Militär der Welt verfügt über eine zuverlässige Abfangkapazität gegen ballistische Interkontinentalraketen."
Alexander Bollfrass, ETH Zürich
Ein atomarer Erstschlag mit einer Rakete ginge aber auch ohne Sarmat-Rakete, wie Waffen-Experte Alexander Bollfrass von der Technischen Hochschule ETH Zürich gegenüber watson.ch festhält. "Wenn die Russen London angreifen wollten, verfügen sie über einen großen Bestand an nuklear bewaffneten Raketen und würden höchstwahrscheinlich mehrere davon gleichzeitig einsetzen." Einmal in der Luft, bestünde auch die Chance, dass die Rakete ihr Ziel trifft. Bollfrass: "Kein Militär der Welt verfügt über eine zuverlässige Abfangkapazität gegen ballistische Interkontinentalraketen."
Wird Russland solche Atomangriffe durchführen?
Technisch wäre Russland also in der Lage, westeuropäische Städte mit Atomwaffen anzugreifen. Doch werden die Russen dies auch tun? Ein nuklearer Schlagabtausch zwischen Russland und dem Westen ist hochgradig unwahrscheinlich, sagte der Waffensachverständige Lars Winkelsdorf kürzlich im Interview mit watson.ch. Er begründete seine Einschätzung damit, dass es bei einem Angriff Russlands "in jedem Falle zu einer Antwort aus dem Westen" käme. "Das würde zur Vernichtung Russlands führen, woran niemand in Moskau Interesse hat."
"Ein 'Atomkrieg' stünde nicht am Anfang einer Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen, solche Kernwaffen sind 'ultima ratio'."
Lars Winkelsdorf, Waffensachverständiger
Winkelsdorf teilt diese Meinung auch noch heute. Auf Twitter schrieb er vor Kurzem: "Ein 'Atomkrieg' stünde nicht am Anfang einer Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen, solche Kernwaffen sind 'ultima ratio', das letzte Mittel in einer solchen Auseinandersetzung und nicht das erste." Wenn sich Russland und der Westen offen angreifen würden, würden zuerst Panzerverbände gegeneinander kämpfen und Flughäfen angegriffen werden.
Man erlebe momentan eine Neuauflage im Säbelrasseln, so Winkelsdorf. "Insgesamt aber hat die Bedrohung da nicht zugenommen, das ist mehr so wie beim Ehekrach, wo die Lautstärke steigt."
Tatsächlich hätte Putin die Möglichkeit, den Konflikt weiter eskalieren zu lassen, ohne gleich eine Atombombe auf westliche Städte zu schießen. Er könnte in der Ukraine etwa chemische oder kleinere nukleare Waffen einsetzen.
Ähnlich klingt es bei Garri Kasparow. Putin "bluffe", meinte der frühere Schachweltmeister und Sachbuchautor gegenüber CNN. Dies mache er schon seit Jahren so. Putin habe den Einsatz immer weiter erhöht und die einzige Karte, die ihm jetzt noch bleibe, sei die "nukleare Erpressung". "Er sieht, dass nichts anderes funktioniert und braucht die Erpressung als letzten Ausweg."
Auch Alexander Bollfrass glaubt nicht an einen nuklearen Angriff der Russen auf London. "Das Vereinigte Königreich ist zwar nicht gegen einen solchen Schlag geschützt, verfügt aber über eine zuverlässige Möglichkeit, Vergeltungsmaßnahmen gegen Moskau zu ergreifen. Das sollte die Russen abschrecken."
Seit über 1000 Tagen herrscht bereits Krieg in der Ukraine. Und das, obwohl der russische Präsident Wladimir Putin das kleinere Nachbarland binnen weniger Tage einnehmen wollte. Nach bald drei Jahren herrscht eine enorme Kriegsmüdigkeit – nicht nur in der Ukraine.