Ruth Bader Ginsburg, Richterin am Supreme Court, dem obersten Gerichtshof der USA, ist gestorben. Die Frage, wer auf ihrem Posten folgt, kann entscheidend dafür sein, wie sich die Vereinigten Staaten in den kommenden Jahrzehnten entwickeln.
Unabhängig davon, ob der amtierende Präsident Donald Trump am 3. November wieder- oder abgewählt wird: Mit seiner Personalentscheidung für den Supreme Court, das Oberste Bundesgericht der USA, kann er das Land weit über seine Amtszeit hinaus verändern.
Der Supreme Court befasst sich unter anderem mit Rechtsstreitigkeiten, bei denen die US-Regierung Streitpartner ist. Zudem richtet es in Fragen des Verfassungsrechts – und damit über die Grundregeln der US-amerikanischen Demokratie.
Entscheidungen des Supreme Court bringen oft einschneidende Veränderungen für die Gesellschaft mit sich. Ein besonders oft zitiertes Urteil ist das im Fall "Roe versus Wade", das im Jahr 1973 Abtreibungen faktisch zu einem Grundrecht erklärte.
Welche Haltung die Richter am Supreme Court haben, ist also entscheidend dafür, wie sich die USA in grundsätzlichen Fragen entwickeln: bei der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Stellung von LGBTQI, dem Umgang mit Rassismus, bei der Familienpolitik, dem Umfang von Meinungs- und Pressefreiheit.
Am 9. September, wenige Tage vor Bader Ginsburgs Tod, hatte Präsident Trump eine Liste mit 20 möglichen Kandidatinnen und Kandidaten veröffentlicht, die er gegebenenfalls als Richter am Supreme Court nominieren möchte.
Um zu verstehen, wie wichtig diese Liste ist, muss man drei Dinge zum Supreme Court wissen:
Bader Ginsburg war die prominenteste der liberalen Richter. Sie galt als liberale Ikone – wegen ihres jahrzehntelangen Kampfes für die Gleichberechtigung von Frauen und Homosexuellen und für das Recht auf Abtreibung. Bader Ginsburgs Leben wurde unter anderem in einer Netflix-Serie verewigt wurde. Vor ihrem Tod hatte sie jahrelang gegen den Krebs gekämpft. 1993 hatte der damalige demokratische Präsident Bill Clinton Bader Ginsburg als Supreme-Court-Richterin nominiert.
Selbst, wenn Trump die Wahl im November verliert und Joe Biden im Januar 2021 das Amt übernimmt, blieben Trump und den Republikanern nun noch mehrere Monate Zeit, die konservative Mehrheit im Supreme Court von 5:4 auf 6:3 auszubauen, da die Amtsübergabe erst am 20. Januar stattfindet.
Was das für die Zukunft der USA bedeuten kann, hat kürzlich Tom Cotton auf den Punkt gebracht, erzkonservativer republikanischer Senator und einer der Namen auf Trumps ergänzter Supreme-Court-Liste. Nachdem Trumps Liste öffentlich geworden war, schrieb Cotton auf Twitter zu Roe vs. Wade – dem Urteil, das Abtreibungen zum Grundrecht erklärt hat: "Es ist Zeit, dass Roe v. Wade verschwindet."
Die Frage ist, ob Trump und die Republikaner Bader Ginsburg wirklich schnellstmöglich ersetzen wollen, so wenige Wochen vor der Wahl. Eigentlich brächte das die Republikaner in Erklärungsnot: Denn 2016, nachdem der konservative Richter Antonin Scalia gestorben war, blockierten die Republikaner mit ihrer Mehrheit im Senat den Richter-Kandidaten des damaligen Präsidenten Barack Obama – mit dem Argument, so kurz vor der Wahl könne man keinen neuen Richter an den Supreme Court berufen.
Doch das scheint führende republikanische Politiker nicht zu stören: Kurz nach dem Tod Bader Ginsburgs sprach sich der republikanische Mehrheitsführer im Senat Mitch McConnell für eine schnelle Nachfolge Bader Ginsburgs aus. Der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden forderte, bis nach der Wahl zu warten.
Laut Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln, hätte eine mögliche weitere Richter-Nominierung durch Trump große Auswirkungen auf die Zukunft der USA, vor allem bei zwei Themen: dem Recht auf Waffenbesitz und dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch.
Jäger wörtlich:
Dieses Gewicht ist umso größer, da Trump – wie jeder Präsident – mit Zustimmung des Senats nicht nur Supreme-Court-Richter benennt, sondern auch Richter an anderen Bundesgerichten. Bisher hat Trump in knapp einer Amtszeit schon 211 Richter nominiert – und damit über ein Viertel der Richterschaft. Das ist im Vergleich zu anderen Präsidenten eine bemerkenswert hohe Anzahl.
Laut USA-Experte Jäger haben auch diese Entscheidungen eine erhebliche Auswirkung auf die USA. Denn durch die vielen Urteile in den Bundesgerichten werde "die gesellschaftliche Realität jederzeit neu geschrieben". Jäger erklärt weiter:
Seit Joe Biden als Präsidentschaftskandidat der Demokraten feststeht, sucht Donald Trump nach Angriffspunkten gegen ihn. Trump macht Biden und die Demokraten verantwortlich für die teils in Gewalt ausgearteten Proteste in US-Städten von Portland bis Kenosha. Und er stellt Biden als eine Art trojanisches Pferd dar. Trumps Argumentation: Biden werde von "radikalen Linken" innerhalb der Demokraten kontrolliert. Würde er gewählt, kämen diese mit an die Macht. Und das würde sich, sagt Trump, auch auf den Supreme Court auswirken.
Seit Jahren schon nennt Trump seine Supreme-Court-Nominierungen als einen seiner wichtigsten politischen Erfolge. In den letzten Wahlkampf-Wochen wollte er schon vor Bader Ginsburgs Tod das Thema offenbar noch stärker in den Fokus rücken.
Die "Washington Post" schreibt, dass Trump bei einer Veranstaltung im Weißen Haus davor gewarnt habe, Linksradikale könnten auch das Oberste Gericht übernehmen. Denn ein demokratischer Präsident könne "bis zu vier" Supreme-Court-Richter ernennen. Über Biden sagte Trump, der müsse jetzt auch seine Liste möglicher Richter veröffentlichen, das sei eine wichtige Information für die Wähler bei der Präsidentschaftswahl. Es ist aber unüblich, dass nicht-amtierende Präsidentschaftsbewerber eine solche Liste veröffentlichen.
Trump selbst hat bereits zwei als konservativ geltende Supreme-Court-Richter nominiert, die dann auch berufen wurden: Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh. Um Kavanaugh gab es nach seiner Nominierung im Jahr 2018 eine wochenlange Kontroverse, weil die Professorin Christine Blasey Ford ihm vorwarf, sie während der gemeinsamen Highschool-Zeit sexuell missbraucht zu haben. Blasey Ford sagte dazu auch vor dem US-Senat aus. Kavanaugh wurde dennoch bestätigt.
Trotz dieser erfolgreichen Nominierungen sind Trump die aktuellen Richter am Supreme Court aber noch nicht konservativ genug.
Denn die Richter haben mehrfach ihre Unabhängigkeit vom Präsidenten bewiesen: Der eigentlich als konservativ geltende Vorsitzende Richter John G. Roberts hat zum Beispiel in den vergangenen Monaten mehrfach mit den liberalen Richtern gestimmt. Im Juli urteilte der Supreme Court, dass Trump kein Recht habe, seine finanziellen Verhältnisse geheimzuhalten. Auch die von Trump nominierten Gorsuch und Kavanaugh stimmten dieser Ansicht zu.
Schon 2016 hatte Trump, nach dem Tod des konservativen Richters Scalia, mit dem Supreme Court Wahlkampf gemacht. Trump warb mit seinen Vorschlägen für konservative Richter um Stimmen. Laut "Washington Post" war er damit auch erfolgreich, das hatten Wahlanalysen ergeben.
USA-Experte Thomas Jäger glaubt, diese Strategie könnte auch diesmal aufgehen: Die Aussicht auf einen Supreme Court mit einer noch deutlicheren Mehrheit für konservative Richter könne unabhängige Wähler zwar abschrecken. Doch Jäger meint:
Gelingt es Trump und den Republikanern tatsächlich, die konservative Mehrheit am Supreme Court weiter auszubauen, dann könnten sich gesellschaftliche Gräben weiter vertiefen. Denn die USA werden Jahr für Jahr diverser, Weiße werden in absehbarer Zeit nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen.
Dazu kommt, dass seit George W. Bushs Wahlsieg im Jahr 2004 kein Republikaner mehr tatsächlich die Mehrheit der Stimmen bei einer Präsidentschaftswahl erhalten hat: Trump gewann 2016 wegen des Wahlsystems der USA, die Mehrheit der Stimmen hatte seine demokratische Gegnerin Hillary Clinton erhalten. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass auch Joe Biden bei der anstehenden Wahl die sogenannte "popular vote" gewinnt, also die Stimmenmehrheit erringt.
Einem diverseren Land mit demokratischer Wählermehrheit stünde dann ein konservativ dominierter Supreme Court gegenüber.
Laut USA-Experte Jäger kann das dazu führen, dass die "politische Reibung" in den USA "umso heißer" wird, "je weiter die Mehrheitsmeinung am Obersten Gericht und die politische Willensbildung der Parteien und sozialen Bewegungen auseinanderliegen".
Das größte Problem für die Zukunft der USA ist dabei aber nicht der Supreme Court, glaubt Jäger. Ein größeres Problem sei, dass der Kongress – die aus Senat und Repräsentantenhaus bestehende Volksvertretung der USA – ein viel schlechteres Ansehen habe: Nur gut zehn Prozent der US-Amerikaner vertrauten ihren Abgeordneten.