Seit knapp einem halben Jahr tobt ein Krieg in Europa. Ende Februar 2022 startete Russland den Überfall auf die Ukraine. Nun blickt die Welt auf einen weiteren möglichen Krisenherd: China und Taiwan. Gleichzeitig steigen in allen Ländern, auch in Deutschland, die Preise für Energie und Lebensmittel. Die Inflation trifft vor allem jene, die ohnehin finanzielle Nöte haben – ihre Anzahl könnte sich durch die Teuerungen aber erhöhen.
Deutschland steuert zudem auf den nächsten Pandemieherbst zu – ein weiterer Krisenherd, der zumindest Teile der Gesellschaft vom Rest entfernt hat. Kriege, Wirtschaftskrise, Inflation, Pandemie: Probleme, die die Welt nicht das erste Mal treffen. Auch im 20. Jahrhundert gab es sie.
Was können wir aus dieser Zeit lernen, um diesmal mit weniger Schaden durch die Krisen zu kommen? Darüber hat watson mit dem Historiker Carlos Collado Seidel und dem Politologen Klaus Stüwe gesprochen.
Gerade jene Menschen, die nach dem Kalten Krieg geboren wurden, sind in einem Gefühl der Sicherheit aufgewachsen. "Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Unsicherheit", stellt Klaus Stüwe klar. Laut dem Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der katholischen Hochschule Eichstädt-Ingolstadt ist die aktuelle Situation sehr ernst – aber definitiv keine Ausnahmesituation. Dass es jungen Menschen heute so vorkomme, als seien die Zeiten besonders düster, liege auch an diesem falschen Gefühl von Sicherheit.
Stüwe sagt:
Carlos Collado Seidel sieht in dem Sicherheitsgefühl der Jüngeren eine Chance. Da die Erfahrung fehle, dass der Dritte Weltkrieg jederzeit beginnen könnte, bestünde die Möglichkeit, dass sie mit anderen Lösungsideen an die Bedrohungslage herangingen, meint der Historiker und außerplanmäßige Professor an der Uni Marburg.
Natürlich, meint Collado Seidel, würden sich gewisse Parallelen zu den 1920er-Jahren aufdrängen: Damals war die Spanische Grippe gerade vorbei, Deutschland stand nach dem Ersten Weltkrieg kurz vor der Hyperinflation.
Aber:
Trotzdem könnten Historiker nie ausschließen, dass sich Geschichte wiederholt. Die Erinnerung der Gesellschaft, sowohl in Deutschland an die NS-Zeit, als auch zum Beispiel in Spanien an die Franco-Diktatur, wirke aber bis in die Gegenwart nach. "Die Gesellschaft ist eine andere, Deutschland ist divers und tolerant, deshalb kann man die Jahrzehnte aktuell nicht vergleichen", sagt Collado Seidel.
Noch nicht.
Denn Menschen, erklärt Collado Seidel, richteten sich nicht nur nach dem, was sie kognitiv wissen. Sondern seien vor allem emotionale Wesen. Sie richteten sich nach Instinkten.
Er meint:
Parallelen könnten auch ins 19. Jahrhundert gezogen werden: Damals gab es auf der einen Seite die Liberalen, die an den Fortschritt glaubten, die Nationalstaaten wollten. Auf der anderen die Reaktionären, die der Entwicklung besorgt entgegenblickten. Auch heute könne von einem Kulturkampf gesprochen werden, meint Collado Seidel.
"Ein Teil der Gesellschaft stellt sich gegen das, wofür ein Großteil der deutschen Gesellschaft steht: eine diverse Gesellschaft", sagt Collado Seidel. Dieser Teil fühle sich durch den Fortschritt bedroht und suche Zuflucht im sogenannten Traditionellen. Das sei in Deutschland zu beobachten, noch viel stärker aber in Russland, Polen, Ungarn oder der Türkei. Auch beim Ukraine-Krieg handele es sich um diesen Kulturkampf.
Ähnlich wie damals im Kalten Krieg stünden sich heute Demokratien und Autokratien gegenüber, darin sind sich Stüwe und Collado Seidel einig. Auch in China und Taiwan zeigen sich diese Tendenzen.
Diese Unsicherheit und der Systemkampf seien große Herausforderungen für Demokratien, meint Stüwe. Wichtig sei, dass die Gesellschaft anerkenne, dass es Autokratien gibt – und es sie auch in Zukunft geben wird. Denn die Vorstellung, alle Staaten würden demokratisch sein, die es nach dem Kalten Krieg gab, ist nicht wahr geworden.
"Wir werden auch in Zukunft mit Autokratien umgehen müssen. Und zwar klug mit ihnen umgehen", sagt Stüwe. Das bedeute, Politikerinnen und Politiker müssten im Umgang mit diesen Regimen auch über die Folgen ihres Handelns nachdenken.
Die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, sei mit ihrer diplomatischen Reise nach Taiwan zwar gegen Chinas Unrechtsregime aufgestanden, habe dabei aber wohl nicht an mögliche Konsequenzen gedacht.
Stüwe stellt klar:
Mit Blick auf China und Russland bedeutet das: unabhängig machen von russischem Gas, sowie von der chinesischen Produktion beispielsweise im Bereich der Elektrogeräte.
Gefährlich ist, darin sind sich Stüwe und Collado Seidel einig, dass in Zeiten der gesellschaftlichen Unsicherheit die Chance steigt, dass Menschen einfachen Lösungen verfielen.
Der Historiker Collado Seidel sagt:
Auffällig sei, meint der Politikwissenschaftler Stüwe, dass das Auftreten extremer gesellschaftlicher Positionen oft mit einer prekären wirtschaftlichen Lage einherginge.
Er fasst das so zusammen:
Durch den deutschen Sozialstaat sei es bisher immer gelungen, die meisten Menschen aufzufangen. Dadurch sei auch die Zufriedenheit mit dem politischen System höher, als in anderen Staaten. Und die Zuwendung zu extremistischen Meinungen und Strömungen geringer.
Das sei eine wichtige Lehre aus der Vergangenheit, meint Stüwe. Er sagt: "Wir müssen alles dafür tun, dass die uns bevorstehende wirtschaftliche Krise nicht zu einer Existenzkrise für einzelne wird."
Das sei teuer. Deutschland müsse immense Schulden aufnehmen. Aber eine andere Möglichkeit gebe es nicht.
Ähnlich sieht es Collado Seidel. Wenn Olaf Scholz davon spreche, dass niemand allein gelassen würde, klinge das zwar nett. Aber die Frage sei, ob das für die Menschen emotional genug ist. Wichtig sei, dass sich die Politiker nicht untereinander zerstreiten. Und das klappe aktuell sowohl in Deutschland, als auch in der westlichen Welt erstaunlich gut.
Collado Seidel räumt aber ein:
Auch Stüwe ist davon überzeugt, dass die deutsche Gesellschaft durch Solidarität und Zivilcourage resilienter werden könnte. "Solidarität ist eine wichtige Ressource des modernen demokratischen Verfassungsstaates", sagt er. Sie sei ein Wert, der nicht von oben diktiert werden, sondern nur aus der Gesellschaft selbst entstehen könnte.
Und was neben der Solidarität besonders wichtig sei, um eben die freiheitliche Demokratie zu beschützen:
Die Stimme zu erheben, sei die wichtigste Lehre aus den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Denn das Problem der Demokratie ist, dass auch anti-freiheitliche Tendenzen die Mehrheit des Volkes erhalten könnten. Deshalb sei es wichtig, nicht nur die Demokratie, sondern eben auch den Liberalismus zu beschützen.
Stüwe schließt: