Wo viel Geld fließt, gibt es auch schwarze Schafe, die sich nicht an die Regeln halten. In der Ukraine soll es angeblich sehr viele davon geben – zumindest lädt das System wohl zum "korrupt Sein" ein, meinen Expert:innen. Das soll sich schleunigst ändern. Denn das vom Krieg gezeichnete Land will der Europäischen Union (EU) beitreten.
Die Kritik lautet: Die Ukraine ist nicht fit, vor allem wenn es um die Korruptionsbekämpfung geht. Doch so einfach ist es nicht.
Laut des aktuellen Corruption Perceptions Index von "Transparency International" gehört die Ukraine zu den größten Gewinnern im Laufe der vergangenen elf Jahre. Das Land schafft es auf Platz 104 von 180 Ländern. "Diese internationale Anerkennung unterstreicht die Wirksamkeit der ukrainischen Bemühungen im Kampf gegen die Korruption", sagt Olga Stefanishyna auf watson-Anfrage. Sie ist stellvertretende Premierministerin für die europäische und euroatlantische Integration der Ukraine.
Im Zuge des EU-Beitrittsprozesses spielt die Korruptionsbekämpfung für die Ukraine derzeit eine große Rolle. Was die Regierung früher noch im Schneckentempo angepackt hat, läuft heute offenbar in Turbo-Geschwindigkeit.
Laut Stefanishyna liege das an der russischen Invasion und dem Wunsch, der EU beizutreten. Sie zählt dazu zahlreiche Errungenschaften für die Korruptionsbekämpfung auf, etwa:
Als "bahnbrechend" bezeichnet Stefanishyna etwa auch das Urteil vom Oktober 2023: "Das Oberste Anti-Korruptionsgericht der Ukraine sprach einem Hinweisgeber ein Honorar in Höhe von zehn Prozent der beabsichtigten Bestechungsgelder zu", sagt sie. Von Gesetzentwurf über faires Lobbying bis hin zu einer Justizreform Ende 2021. All diese Beispiele veranschaulichen laut der ukrainischen Vize-Regierungschefin die grundlegenden Veränderungen, die in der Ukraine im Gange sind.
Doch der Weg ist steinig. Laut der EU gibt es noch Luft nach oben.
"Bei der Korruptionsbekämpfung wurden zwar einige Fortschritte erzielt, die Ukraine muss jedoch ihre Korruptionsbekämpfungseinrichtungen weiter stärken und ihre Erfolgsbilanz bei Ermittlungen und Verurteilungen – auch bei Fällen auf hoher Ebene – weiter verbessern", schreibt der Europäische Rat auf seiner Website. Die Ukraine hat weiterhin mit einem vergleichsweise hohen Korruptionsniveau zu kämpfen und rangiert damit im internationalen Vergleich weiterhin in der unteren Hälfte.
Stefanishyna hebt hier die besondere Herausforderung für die Ukraine hervor. Denn: Das Land führe grundlegende Reformen durch und verteidigt sich gleichzeitig gegen eine Invasion Russlands. "Kein anderer moderner europäischer Staat ist mit so etwas konfrontiert worden."
Aber auch Russland trage an der Korruption in der Ukraine Mitschuld – zumindest die Nachwehen der Sowjetunion.
"In einem breiteren Kontext müssen wir auch mit den Überbleibseln einer postsowjetischen Mentalität und den Folgen der langjährigen russischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine kämpfen", führt die stellvertretende Premierministerin aus. Diese Einmischung habe die "Transformationsdynamik der Ukraine" entscheidend beeinflusst.
Sie sagt:
Allerdings erklärte auch Estland im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1991 die Unabhängigkeit. Heute rangiert das Land im Korruptionswahrnehmungsindex auf Platz zwölf – noch vor Frankreich und Österreich. Deutschland ist mit Platz neun unter den Top Ten. Das aktuelle Schlusslicht der EU-Länder bildet Ungarn mit Position 76.
"Die Ukraine ist mit Sicherheit eines der korrupteren Länder in Europa", sagt Politologe Eduard Klein auf watson-Anfrage. Gleichzeitig dürfe man aber nicht unterschätzen, wie viel sich in den vergangenen Jahren getan hat. Klein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Als Redakteur der Ukraine-Analysen beschäftigt er sich auch mit der Korruptionsbekämpfung.
Laut Klein braucht es vor allem Geduld. "Korruptionsfälle sind häufig komplex, die Ermittlungen dauern oft lange, und bis Verfahren vor Gericht landen und behandelt werden, vergehen ein oder zwei Jahre." Zudem wehre die Ukraine einen Angriffskrieg ab, der alle Ressourcen binde. In diesem Zusammenhang hebt Klein eine wichtige Entwicklung hervor:
Demnach habe die Ukraine bei der Korruptionsbekämpfung seit 2014 große Fortschritte erzielt, meint der Experte. Laut ihm wurden neue Gesetze beschlossen, komplett neue und weitgehend unabhängige Institutionen zur Korruptionsbekämpfung aus der Taufe gehoben.
Als Resultat habe sich die Alltagskorruption – also zwischen Bürger:innen und Behörden – um etwa die Hälfte verringert. Im Bereich der politischen Korruption gebe es immer wieder spektakuläre Festnahmen ranghoher Personen aus etwa Justiz, Politik, Wirtschaft. "Niemand ist mehr unantastbar. Das gab es früher nicht", sagt Klein. Aber wie sieht es im Verteidigungsministerium aus?
Die Ukraine befindet sich im Krieg, ist auf finanzielle Hilfen sowie Waffenlieferungen aus dem Ausland angewiesen – und dann tauchen Korruptionsfälle im Militär auf.
"Niemand ist so wütend und enttäuscht wie die Ukrainer:innen selbst über die Korruptionsfälle im Verteidigungsministerium", meint Klein. Denn sie gehen zulasten der Armee und gefährden damit potenziell Menschenleben und die Landesverteidigung. Aber der Politologe sieht eine positive Entwicklung: "Früher versuchte man noch, vieles unter den Tisch zu kehren, heute folgen tatsächlich Konsequenzen."
Fakt sei aber: Es bleibt noch eine ganze Menge zu tun. Das zeigten insbesondere die Vorfälle im Justizsystem. "Etwa die Verhaftung des Obersten Richters der Ukraine im Mai 2023 wegen der Annahme von drei Millionen US-Dollar", sagt Klein. Der institutionelle und personelle Umbau sei im Gange, dauere allerdings, da man nicht einfach über Nacht alle Richter:innen austauschen kann.
Klein lobt das 2019 neu geschaffene Oberste Antikorruptionsgericht (HACC). Damit beweise die Ukraine, dass es ihr gelingen kann, effektive Gerichte mit integrem Personal aufzubauen. "Das HACC hat in vier Jahren knapp 160 hochrangige Personen wie Richter und Politiker wegen Korruption rechtskräftig verurteilt – eine ordentliche Bilanz."
Dennoch: Generell werde davon ausgegangen, dass es etwa zehn Jahre dauern könnte, die Ukraine EU-tauglich zu machen, prognostiziert Klein.
Laut Klein liege das nicht an den politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen. Hier sei die Ukraine verhältnismäßig "fit". Die Schwachstelle liege im Bereich der Wirtschaft, wo es viel Aufholbedarf gebe. "Zusätzlich zerstört der Krieg die ohnehin bescheidenen ökonomischen Ressourcen", sagt der Experte. Was die Korruption angehe, sei die Ukraine aktuell vergleichbar mit dem Stand von Bulgarien und Rumänien vor deren EU-Beitritt 2007.
Nach der Auffassung von Klein erledigen die Ukrainer:innen ihre Hausaufgaben, allerdings gilt wie aktuell in allen Bereichen des Landes: "Langfristige Planungen und Szenarien sind angesichts des russischen Angriffskrieges und des unvorhersehbaren Kriegsverlaufs mit großer Vorsicht zu genießen."