Sie kamen zusammen, um in der Bibel zu lesen, wollten ihren Glauben ausüben. Sie gingen in ihr Gotteshaus – einige von ihnen verließen es nie wieder. Acht Menschen haben am Donnerstagabend ihr Leben verloren – darunter auch ein ungeborenes Kind. Die Mutter überlebte den Amoklauf in einem Gebäude der Zeugen Jehovas schwer verletzt. Auch der Täter ist unter den Toten.
Laut Polizeiermittlungen handelt es sich dabei um Philipp F., ein früheres Mitglied der Glaubensgemeinschaft. Der 35-Jährige habe laut Berichten eine besondere Wut auf religiöse Anhänger, vor allem gegen die Zeugen Jehovas gehegt. Nun hat er mehrere von ihnen mit sich in den Tod gerissen. Die ganze Glaubensgemeinschaft steht unter Schock, meint Luis Miraldo im Gespräch mit watson.
Miraldo ist eigenen Angaben zufolge seit 1996 Mitglied der Zeugen Jehovas. Und offenbar wollte er seinen Augen nicht trauen, als er von dem Amoklauf las: "Als ich es gestern in den Nachrichten las, habe ich es für fake gehalten", meint er. Das Geschehen in Hamburg erschüttere ihn. Er denke viel an seine "betroffenen Glaubensbrüder".
Er warnt vor wilden Spekulationen über den Täter und seine Motive. "Was ihn angetrieben hat, werden wir wahrscheinlich nie genau erfahren", sagt der Zeuge Jehovas. Er selbst übt seinen Glauben leidenschaftlich aus, spricht offen darüber, meldet sich auf eine Anfrage von watson über Instagram innerhalb kurzer Zeit zurück.
Auf seinem Profil schreibt Miraldo etwa: "Die for your passion", also "stirb für deine Leidenschaft" – dahinter verlinkt er die Website der Zeugen Jehovas. Er wirkt wie ein lebensfroher Mensch. Zwischen Bildern von Katzenbabys, Autos und Natur findet man immer wieder den 54-Jährigen mit großer, schwarzer Brille und breitem Lachen abgebildet.
Ein Bild zeigt einen Anhänger. Darauf steht: "Ich aber und meine Hausgenossen, wir werden Jehova dienen." Ein Zitat aus der Bibel der Zeugen Jehovas: die Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift.
Für ihn sei die Tat des ehemaligen Mitglieds F. nicht nachvollziehbar. Er spricht am Telefon viel über die Inhalte seines Glaubens, schweift gern einmal ab. Erzählt von Vergebung. Von Unterstützung, die Menschen in seiner Religionsgemeinschaft bekämen.
Auch spricht er darüber, dass Menschen, die ausgeschlossen würden, wieder zurückkommen könnten, wenn sie wollten.
Die Zeugen Jehovas sind eine sehr fundamentalistisch geprägte Gemeinschaft. Verletzen Mitglieder die Regeln oder verhalten sich der Meinung der Gemeinschaft nach "unbiblisch", müssen sie mit einem Mitglied tiefgreifend über ihr Verhalten sprechen. Etwa, wenn sie eine sexuelle Beziehung mit einer Person außerhalb der Glaubensgemeinschaft haben. Und sie können für ihre Fehltritte bestraft werden – dazu gehört auch der Ausschluss.
Verlässt ein Mitglied die Gemeinschaft freiwillig oder wird ausgeschlossen, dürfen Familienmitglieder, die noch immer Teil der Gemeinde sind, keinen Kontakt mehr zu ihm oder ihr pflegen.
Doch laut Miraldo bekommen Menschen Unterstützung, wenn sie wieder aufgenommen werden wollen – etwa von den zuständigen "Ältesten".
Gräuel gegenüber dem Täter verspürt Miraldo nicht. Er sagt:
Auch wenn er das Blutbad als besonders grausam bezeichnet, er fühlt sich damit nicht persönlich angegriffen. "Als Angriff gegen uns als Zeugen Jehovas sehe ich es nicht", meint er.
Ob der Amoklauf Miraldo Angst einflöße, in Zukunft öffentliche Veranstaltungen seiner Glaubensgemeinschaft zu besuchen, verneint er. "Alle unsere Zusammenkünfte sind öffentlich. Diesen Sonntag bin ich auf einem Kongress mit circa 700 Personen", sagt er.