Das Bundeskabinett geht in Klausur – doch das Thema, das Bürger:innen wie Politik gerade am meisten beschäftigt, steht auf der Tagesordnung maximal verklausuliert. "Auswirkungen des Ukraine-Konflikts auf die Energieversorgungssicherheit in Deutschland", heißt es da.
Klar ist: Die zunehmend erhitzte Debatte über neue Entlastungen wegen der hohen Preise werden Kanzler Olaf Scholz (SPD) und seine Minister beim "Klassentreffen" auf Schloss Meseberg nicht ausblenden können. Die Ampel steht unter Druck, und SPD, Grüne und FDP beginnen zunehmend auch gegeneinander auszuteilen. Die Nerven scheinen arg strapaziert – aus unterschiedlichen Gründen:
Grünen-Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck, in Umfragen das beliebteste Mitglied des Scholz-Kabinetts, hat seinen ersten offensichtlichen Fehler gemacht. Von seiner unter Zeitdruck gestrickten Gasumlage, einer Abgabe für Privathaushalte und Industrie, könnten auch wirtschaftlich stabile Gasimporteure profitieren. Habeck hat eine Korrektur zugesagt. Doch juristisch ist das kompliziert – und inzwischen verlieren angesichts des öffentlichen Drucks sogar die Koalitionspartner die Geduld.
Die FDP fordert Ideen bis zur Kabinettsklausur. SPD-Chef Lars Klingbeil wirft Habeck in deutlichen Worten handwerkliche Fehler vor. Am Ende zählten in der Politik eben nicht nur schöne Worte, merkte er bei "Zeit online" spitz an. "Es muss vor allem die Substanz stimmen."
Daraufhin keilte der Fraktionsvize der Grünen, Konstantin von Notz, auf Twitter gegen Klingbeils Genossen Scholz aus: "schlechte Performance des Bundeskanzlers", "miese Umfragewerte", Erinnerungslücken im Hamburger Steuerskandal – all das werde "durch unloyales Verhalten und Missgunst" in der Koalition nicht geheilt.
Grünen-Chef Omid Nouripour gab sich danach bemerkenswert wenig Mühe, die Wogen zu glätten. "Die SPD hatte zwölf Jahre Groko und hat einen anderen Umgangston gepflegt innerhalb der Koalition", ließ er am Rande der Grünen-Vorstandsklausur wissen. "Dass aber so manche schrillen Töne bei unseren Leuten auf Verwunderung stoßen, das ist wiederum – passiert halt mal." Aber klar, eigentlich arbeite man gut zusammen und die jüngste Tonlage dürfe nicht zur Regel werden.
Von der Aufbruchstimmung der Anfangstage, dem scheinbar neuen Umgangsstil der Koalitionspartner, von Zusammenarbeit trotz unterschiedlichen Wählerklientels – davon ist in der Ampel in diesen Tagen nicht mehr viel zu spüren.
Politikwissenschaftler:innen sehen die Koalition in einer kritischen Lage. Angesichts der Differenzen und persönlichen Angriffe seien "Fragen an die Regierungsfähigkeit wie an den Fortbestand der gegenwärtigen Berliner Konstellation erlaubt, auch wenn sie sich erst in einigen Monaten stellen sollten", sagte der Passauer Politologe Heinrich Oberreuter dem "Handelsblatt". Andererseits: Welche Partei könnte es sich leisten, die Koalition platzen zu lassen, während Russland Krieg gegen die Ukraine führt und Deutschland unter den wirtschaftlichen Folgen ächzt?
In der Debatte um ein drittes Entlastungspaket versuchen alle drei Partner, vor allem für ihr Klientel etwas rauszuholen. Die FDP will einen Inflationsausgleich bei den Steuern, wovon jene stärker profitieren, die mehr Steuern zahlen.
Die SPD-Fraktion will Direktzahlungen für Menschen mit wenig Einkommen, Familien, Rentner:innen, Studierende und Azubis. Die Grünen sehen das ähnlich und haben außerdem ein 49-Euro-Bahnticket vorgeschlagen – da sprang die SPD auf. Finanzieren würden das SPD und Grüne über eine Sondersteuer auf überhohe Unternehmensgewinne oder eine Änderung der Dienstwagenbesteuerung – was für die FDP beides nicht infrage kommt.
Einig scheint man sich nur beim Zeitplan: "In den nächsten Tagen" solle das Paket geschnürt sein, heißt es. Unwahrscheinlich, dass es schon in Meseberg beschlossen wird. Doch es steht auch ein Treffen der Parteispitzen im Koalitionsausschuss an.
Nervös werden wegen des immer offener ausgetragenen Koalitionsstreits die Wahlkämpfer in Niedersachsen. Dort steht im Oktober eine Landtagswahl an. Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat Angst vor verheerenden Signalen aus Berlin. "Meine Krisenerfahrung ist, dass es für die Politik lohnenswert ist, gerade in solchen Zeiten in der Kommunikation sehr diszipliniert zu sein", sagte er "The Pioneer".
Aus der FDP-Spitze ist zu hören, die Debatte über das dritte Entlastungspaket und auch über eine ganze Reihe anderer Themen werde noch "sehr kommunikationsintensiv" werden. Die Liberalen schauen besonders gebannt auf Niedersachsen, schließlich haben sie in diesem Jahr alle Wahlen verbockt: Im Saarland kam die FDP nicht über die Fünf-Prozent-Hürde, in Schleswig-Holstein schmierte sie ebenso ab wie in Nordrhein-Westfalen. Ginge auch Niedersachsen schief, käme Parteichef Christian Lindner langsam in Erklärungsnot.
Die FDP-Basis sehe die Ampel, diese Koalition mit zwei linken Parteien, ohnehin überwiegend kritisch, meint die Parteispitze. Nur "aus staatspolitischer Verantwortung" sei man in diese eingetreten, sagte Lindner jüngst im ZDF-Sommerinterview. "Wir sind sie eingegangen, weil wir mussten. Aber wir sind in der Ampel, weil wir Gutes bewirken." Nach eigenem Verständnis ist die FDP in der Ampel das Korrektiv zu SPD und Grünen.
Zu allem Überfluss wird pünktlich zum Treffen des Ampel-Kabinetts erneut das Gas aus Russland abgeschaltet. Der Staatskonzern Gazprom will vom 31. August bis 2. September wieder Wartungsarbeiten an der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 vornehmen. Ähnlich wie im Sommer beim ersten Stopp weiß man auch diesmal nicht ganz sicher, ob der Hahn danach wieder aufgedreht wird – und wie viel Gas dann noch fließt.
Sollte es im Winter zusätzlich zu den rapide gestiegenen Preisen für Gas und Strom tatsächlich zu einem Energiemangel kommen, sehen manche gesellschaftliche Verwerfungen auf Deutschland zukommen. Der Rückhalt für die von Russland angegriffene Ukraine könnte bröckeln – und auch der für die deutsche Ampel-Regierung. Die Ampel stemmt sich mit ihren Entlastungen auch dagegen: Grünen-Chefin Ricarda Lang spricht vom "Winter der Solidarität".
Bei einer Kabinettsklausur gehe es aber gar nicht unbedingt um die drängendsten aktuellen Fragen, machte eine Regierungssprecherin am Montag klar. Sondern um Themen, "die vielleicht auch in dem Alltags-Regierungsgeschäft nicht ständig Vorrang haben". Der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez soll mit über eine Sicherheitsstrategie beraten. Außerdem auf der Tagesordnung: berufliche Bildung in Zeiten des Wandels.
(ast/dpa)