"Armut grenzt aus", das ist die grundlegende Erkenntnis des Verteilungsberichtes des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung. Der Bericht wurde am Donnerstag bei einer Pressekonferenz vorgestellt. Ziel der Untersuchung: Herausfinden, wie sich Einkommensarmut auf die gesellschaftliche Teilhabe Betroffener auswirkt. Spoiler: nicht gut.
Bereits vor der Coronapandemie sei der finanzielle Rückstand von Haushalten unter der Armutsgrenze gegenüber dem Einkommensmedian 2019 um ein Drittel im Vergleich zu 2010 gestiegen. Damit hat die Armut in Deutschland 2019 einen Höchststand erreicht – Corona, Krieg und Energiekrise haben die Lage weiter verschlechtert.
Die Studienautorinnen Dorothee Spannagel und Aline Zucco kommen zu der Erkenntnis, dass die gesellschaftliche Teilhabe durch Armut sogar deutlich eingeschränkt wird. Dazu müssten Arme auf Güter des alltäglichen Bedarfs verzichten, in kleineren Wohnungen leben und hätten einen schlechteren Gesundheitszustand. Schon 2019, lange vor der Energiekrise, konnten 5 Prozent der Armutsbetroffenen ihre Wohnung nicht richtig heizen.
Spannagel und Zucco gehen davon aus, dass sich die Lage weiter verschärft hat. Sie verweisen auf eine Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der 2021 einen neuen Armuts-Höchststand auswies.
Die Autorinnen fassen die Situation so zusammen: Arme sind unzufriedener mit ihrem Leben und sie haben weniger Vertrauen in das Handeln politischer Akteur:innen.
Dieses Misstrauen zeige sich auch in der Bewertung des Staatssystems: 68 Prozent der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, halten die Demokratie für die beste Staatsform, schreiben die Autorinnen. 59 Prozent finden, die Demokratie in Deutschland funktioniere gut. Der gesamtdeutsche Durchschnitt liegt hier laut Statista bei 71 Prozent.
Erhebungsgrundlage für den Verteilungsbericht waren Daten der Wiederholungsbefragungen des Sozio-oekonomisches Panels (2019) und der Lebenslagenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung (2020), sowie einer Repräsentativbefragung, die das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Stiftung aus dem August 2022.
"Armut und soziale Polarisierung können die Grundfesten unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken bringen, vor allem dann, wenn sie sich verfestigen", sagt WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. Engagement gegen Armut sei daher nicht nur notwendig, um den Betroffenen zu helfen – sondern auch, um die Gesellschaft zusammenzuhalten.
Kohlrausch sagt:
Was die WSI-Chefin allerdings bedauert: Dass nach der Einigung zwischen Ampel und Union die Vertrauenszeit gestrichen wurde. Denn dieser Vorschlag, davon geht Kohlrausch aus, hätte Vertrauen in staatliche Institutionen stärken können. Worin sie allerdings die Möglichkeit eines Paradigmenwechsels sieht, ist die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs. Das bedeutet, dass im neuen Bürgergeldkonzept Qualifikation über die Vermittlung in zumutbare Arbeit gestellt werden soll.
Das gebe gerade Menschen, deren prekäre Lage auch an mangelnder Qualifikation liege, die Chance, sich weiterzubilden. Was nämlich auch zur Wahrheit gehöre: Deutschland fehlt qualifiziertes Fachpersonal. Am Ende sei aber auch jetzt nach der Einigung von Ampelkoalition und Union die Frage, wie sich das neue Bürgergeld – samt seinen Maßnahmen – in der Praxis gestaltet.
Kohlrausch stellt allerdings klar: "Gegen Armut hilft Geld." Am Ende müsse auch über eine armutsfeste Absicherung im Sinne höherer Regelsätze gesprochen werden – ebenso wie über steigende Löhne im Niedriglohnsektor. Auch wenn das bedeute, über Umverteilung nachzudenken. Die WSI-Chefin macht deutlich: Von einer solchen Umverteilung würden nicht nur die Armen profitieren – sondern die gesamte Gesellschaft.
Die Studienautorinnen kommen darüber hinaus zu dem Schluss, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter gefördert werden müsse. Davon würden sowohl Familien als auch Alleinerziehende profitieren. Beides Gruppen, die armutsgefährdet sind. Dafür bräuchte es flexiblere Arbeitsmodelle und leichtere Zugänge zu Kinderbetreuungsangeboten.