Ist die Wahlrechtsreform der Ampel verfassungskonform? Darüber verhandelt aktuell das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Dem Gericht sind gleich mehrere Beschwerden über die Ampel-Reform zugegangen.
So handelt es sich konkret um zwei Normenkontrollverfahren (195 Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, bayerische Staatsregierung), drei Organstreitverfahren (CSU, Linke, Linke-Bundestagsfraktion) und zwei Verfassungsbeschwerdeverfahren (mehr als 4000 Privatpersonen, Bundestagsabgeordnete der Linken mit über 200 weiteren Privatpersonen).
Nach Angaben des Bundesverfassungsgerichts sehen sich die Antragsteller und Beschwerdeführer insbesondere in zwei Grundrechten verletzt: bei der Wahlrechtsgleichheit nach Artikel 38 Grundgesetz und beim Recht auf Chancengleichheit der Parteien nach Artikel 21 Grundgesetz.
Was aber ist das Problem mit der Reform? Und warum muss das Wahlrecht überhaupt reformiert werden? Watson klärt die wichtigsten Fragen.
Bereits 2020 hatte die damals regierende Große Koalition aus Union und SPD unter Alt-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Wahlrechtsreform verabschiedet. Die hat den Bundestag allerdings nicht wie geplant verkleinert. Das von Kritiker:innen Reförmchen genannte Gesetz schaffte es lediglich, den Anstieg der Abgeordnetenzahl zu bremsen. Der Bundestag wuchs bei der Wahl 2021 von 709 auf 736 Abgeordnete – und ist damit weiterhin das größte frei gewählte Parlament weltweit.
Weil der Bundestag also weiterhin so groß ist – und dadurch wahnsinnig viel Steuergeld schluckt – hat sich die Ampelregierung der Aufgabe erneut angenommen. Nach dem neuen Wahlrecht wird die Sitzzahl auf 630 gedeckelt – mehr Abgeordnete würden also nicht reinkommen. Gewählt wird weiter mit Erst- und Zweitstimme. Es gibt aber keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr.
Die Grundmandatsklausel fällt außerdem weg. Nach ihr zogen bisher Parteien, die unter der Fünf-Prozent-Hürde lagen, auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie mindestens drei Direktmandate holten. Wie zum Beispiel die Linke, die trotz verpatzter Wahl 2021 in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen konnte.
Besonders die CSU fühlt sich durch die Zweitstimmen-Regelung benachteiligt. Denn: Künftig wird jede Partei nur noch so viele Mandate erhalten, wie ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen – auch, wenn sie mehr Direktmandate geholt hat. Dann gehen die Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis leer aus.
Dass sich gerade die CSU – aber auch die CDU – über diese Regulierung aufregt, ist naheliegend. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann die CSU 45 Direktmandate, kam aber nur auf ein bundesweites Zweitstimmenergebnis von 5,2 Prozent. Sie erhielt so elf Überhangmandate, die sie nach dem neuen Wahlrecht nicht mehr bekäme.
Und auch die CDU in Baden-Württemberg zog mit 12 zusätzlichen Abgeordneten in den Bundestag ein. Zusammen waren das 23 von insgesamt 34 Überhangmandaten, die wiederum 104 Ausgleichsmandate zur Folge hatten.
Die Linke empört sich vor allem über den Wegfall der Grundmandatsklausel. Zur Erinnerung: Aktuell profitiert sie besonders davon, sonst wäre die Partei nämlich nicht eingezogen. Und das war nicht das erste Mal. Bei der Wahl 1994 holte die Linke-Vorgängerpartei PDS sogar nur 4,4 Prozent der Zweitstimmen. Doch dank vier in Berlin gewonnener Direktmandate entfielen auf sie 30 Sitze im Bundestag.
Aber gerade für die CSU könnte die Kombination der beiden Neuerungen bitter kommen. Würde sie bundesweit hochgerechnet unter die Fünf-Prozent-Marke rutschen, flöge sie nach dem neuen Wahlrecht aus dem Bundestag – auch wenn sie wieder die allermeisten Wahlkreise in Bayern direkt gewinnen würde.
Wann genau mit einem Urteil zu rechnen ist, steht noch nicht fest. Allzu lang kann sich das Bundesverfassungsgericht aber nicht Zeit lassen. Der neue Bundestag wird regulär im Herbst kommenden Jahres gewählt. Und die Venedig-Kommission des Europarats hat in einem Verhaltenskodex festgelegt, dass etwa ein Jahr vor einer Wahl deren Regeln feststehen sollen.
Demnach müsste spätestens direkt nach der parlamentarischen Sommerpause ein Urteil verkündet werden. Die Kommission, die Staaten in Verfassungsfragen einschließlich des Wahlrechts berät, hat sich das neue deutsche Wahlrecht im Juni vergangenen Jahres angeschaut. Sie kam zu dem Schluss, dass die Reform im Einklang mit den internationalen Wahlrechtsstandards stehe. Kritisch angemerkt wurde aber, dass eine breite Unterstützung über die Parteigrenzen hinweg fehle.
Wie genau sich Karlsruhe entscheiden wird, ist völlig offen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte keine verfassungsrechtlichen Bedenken und unterzeichnete das Gesetz ohne weiteres. Das Bundespräsidialamt stellte klar, dass der Gesetzgeber nach dem Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts frei in der Ausgestaltung des Wahlrechts sei. Umstritten ist das Thema dennoch auch in Karlsruhe.
(Mit Material der dpa)