Wer verstehen will, warum die Koalitionsspitzen nochmal über die Zukunft des derzeitigen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen verhandelt, muss zurück in die Zuk..., äh, Vergangenheit. watson-montage
Deutschland
22.09.2018, 15:5522.09.2018, 15:57
Angela Merkel gab sich zunächst optimistisch. Die Bundeskanzlerin sagte, "dass die Koalition an der Frage des Präsidenten einer
nachgeordneten Behörde nicht zerbrechen wird". Doch dass sie dies bei
einer Auslandsreise in Litauen kundtun musste, zeigte bereits die
große Nervosität. Nun wäre es fast anders gekommen, das hätte auch
das abrupte Ende der Kanzlerschaft Merkels bedeuten können.
Wie dramatisch die
Lage gerade in der SPD ist, und warum SPD-Chefin Andrea Nahles zur
Briefschreiberin wurde, zeigt eine Rekonstruktion auf Basis von
Angaben aus der Koalition.
Die Vorgeschichte
Nahles kann wie geplant Merkel und CSU-Chef und
Innenminister Horst Seehofer am 18. September beim Dreier-Treffen im
Kanzleramt zur Ablösung Maaßens wegen Zweifeln an dessen Eignung im
Kampf gegen Rechtsextremismus bewegen. Aber dessen Förderer Seehofer,
der seine Expertise im Anti-Terrorismus-Kampf schätzt, setzt im
Gegenzug überraschend die Beförderung Maaßens zum Staatssekretär
durch. Nahles nickt das ab, statt sich zu vertagen und hat seither
ein dickes Problem. Denn weite Teile der SPD vermissen bei der Entscheidung eine klare Haltung: Warum sollte man jemanden für zweifelhaftes Verhalten noch belohnen?
Donnerstag, 08.50 Uhr
Aus Protest gegen die Linie der SPD tritt der
Oberbürgermeister des sächsischen Freiberg, Sven Krüger, aus der
Partei aus: "Schaut man diese Tage nach Berlin, drückt das Wort 'Fremdschämen' nicht einmal ansatzweise aus, was ich derzeit
empfinde", schreibt er bei Facebook empört zur Begründung. Er ist nur
einer von vielen. An der Basis brodelt es, im Postfach von
Generalsekretär Lars Klingbeil gehen ohne Ende Protestmails ein, ein
Genosse drückte schon am Vortag dem vor der Parteizentrale rauchenden
Juso-Chef Kevin Kühnert ein Austrittsschreiben in die Hand.
Donnerstag, gegen 18.00 Uhr
Nahles unterbricht ihre zweitägige
Wahlkampftour in Bayern. Ein Termin am Abend in der Reichswaldhalle
Feucht wird abgesagt und sie reist nach Berlin. Nahles ist klar, dass
eine Augen-zu-und-durch-Linie nicht mehr zur halten ist.
Donnerstag, 21 Uhr, Willy-Brandt-Haus
Die engere SPD-Führung sitzt
bei einem Krisentreffen zusammen, Nahles' Stellvertreter wie Manuela
Schwesig (Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern) sind ohnehin
wegen der Bundesratssitzung am nächsten Morgen in der Stadt.
SPD-Spitzenpolitiker berichten von der Stimmung bei ihren Fahrern,
die für die Politiker oft Seismographen des Volkes sind. Die Fahrer
seien empört, dass Maaßen sogar noch finanziell belohnt werden solle
und mit der Gehaltsstufe B11 künftig 14 157 Euro im Monat bekommen würde. Jemand
werde für ungeeignet gehalten, habe sich gegen Teile der Regierung
gestellt und bekomme dafür fast 3000 Euro mehr. Nahles unterbreitet
von sich aus den Vorschlag, auf Merkel und Seehofer mit der Bitte um
eine Neuverhandlung zuzugehen.
Freitag, 07.00 Uhr
Nahles sitzt im Flieger nach München, von dort
geht es Richtung Nürnberg. Erneut Wahlkampf für die bayerische
Landtagswahl am 14. Oktober, wo die SPD hinter CSU, Grünen und AfD
nur auf Platz vier landen könnte. Die Gedanken sind woanders. Viele
Telefonate, der Druck auf die erst im April gewählte erste Frau an
der Spitze der ältesten Partei Deutschlands wächst stündlich. Die
Idee eines Briefes verfestigt sich, er wird intern abgestimmt.
Unterdessen plant die nordrhein-westfälische SPD einen Antrag, darin
heißt es: "Der Koalitionsausschuss muss sich die Frage der weiteren
Verwendung des Beamten Hans-Georg Maaßen ein weiteres Mal vorlegen
und sie im Lichte der Debatten der vergangenen Tage neu
bewerten." NRW ist der mit Abstand größte Landesverband, er
verhinderte schon fast den Eintritt in die Koalition. Spätestens da
scheint klar: der Maaßen-Deal wird platzen – oder die Koalition.
Freitag, 13 Uhr: Wohngipfel im Kanzleramt, mit Merkel und Seehofer
Bei einer Pressekonferenz mit Vizekanzler Olaf Scholz (SPD)
versprechen sie eine Wohnraumoffensive, 1.5 Millionen Wohnungen sind
das Ziel, die steigenden Kosten sind die neue soziale Frage. Die
Mieten bewegen viele Bürger sicher mehr als Maaßen. Kein Wort zu der
Causa Maaßen an sich. Aber Merkel und Seehofer sprechen am Rande der
Veranstaltung im Kanzleramt darüber, dass es bei der SPD brodelt, das
laufe so nicht, man müsse was tun. Die CSU liegt in Bayern nur bei 35
Prozent, ein Zerbrechen der Koalition kurz vor der Wahl kann keiner
wollen – es würde wohl nur der AfD nutzen.
Bild: Florian Gaertner/photothek.net/imago
Freitag, 15.30 Uhr
Nahles hat die Diskussionsveranstaltung "Gute
Pflege" im Gemeindehaus St. Georgen in Bayreuth zügig verlassen.
Sie hat von Bayern aus mit Merkel und Seehofer telefoniert, die im
Kanzleramt zusammensitzen, und beiden den Brief angekündigt. Auch in
der Union rumort es, die Reaktionen sind verheerend. Aber wer soll nach
Nahles nun das Gesicht verlieren? Seehofer? Wenn sich Maaßen von sich aus
aus Verantwortung für das Land zurückziehen würde, wäre der Fall
einfach zu lösen, wird immer wieder intern betont.
Freitag, gegen 15.40 Uhr
Der Brief geht per Mail an Merkel und
Seehofer. Und in Kopie an die Mitglieder des SPD-Präsidiums, die sich
zuvor nicht vernünftig eingebunden fühlten. Erste Reaktionen aus der
SPD: Großer Respekt für Nahles, sie stand auch persönlich am Abgrund
und rettet sich vorerst. Es ist ungewöhnlich in der Politik, dass
Fehler so deutlich eingeräumt werden. "Die durchweg negativen
Reaktionen aus der Bevölkerung zeigen, dass wir uns geirrt haben. Wir
haben Vertrauen verloren, statt es wiederherzustellen", schreibt
Nahles. "Dies sollte Anlass für uns gemeinsam sein, innezuhalten und
die Verabredung zu überdenken."
Freitag, 16.25 Uhr
Nun müssen Seehofer und Merkel noch öffentlich die
Neuverhandlung bestätigen. "Ich denke, eine erneute Beratung
macht dann Sinn, wenn eine konsensuale Lösung möglich ist. Darüber
wird jetzt nachgedacht", sagt Seehofer der Deutschen Presse-Agentur – die zweite Eilmeldung des Tages zum Fall Maaßen. Die drei
Parteivorsitzenden hätten auch miteinander am Telefon gesprochen.
Wenig später teilt Regierungssprecher Steffen Seibert mit: "Die
Bundeskanzlerin findet es richtig und angebracht, die anstehenden
Fragen erneut zu bewerten und eine gemeinsame tragfähige Lösung zu
finden". Damit ist klar: Alles zurück auf Los. Was Maaßen wohl denkt?
Am Abend ist auch Merkel im bayerischen Wahlkampf
unterwegs, in München sagt sie, man wolle bereits "im Laufe des
Wochenendes" eine "gemeinsame, tragfähige Lösung" finden. Der enorme
Druck, auch Zeitdruck, war auch deshalb entstanden, weil am Montag
der 45-köpfige SPD-Vorstand in Berlin zusammenkommt. Ohne
Neuverhandlung drohte hier eine unkalkulierbare Situation. Daher die
Notbremse. Aber wenn die zweite Lösung nicht passt, könnte die
Situation sich statt zu entspannen, endgültig zum Bruch führen.
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer schreibt
unterdessen zum zweiten Mal binnen drei Tagen an ihre Mitglieder. Die
jetzt anstehenden Gespräche sollten aus Sicht der CDU genutzt werden, "um zu klären, ob sich alle Koalitionsparteien weiter hinter dem
gemeinsamen Auftrag versammeln können." Man müsse in der Lage und
willens sein, sich um das zu kümmern, was den Menschen wirklich am
Herzen liege. "Hierin liegt die Chance der anstehenden Gespräche.
Aber diese Chance müssen wir jetzt auch ergreifen."
(pb/dpa)
Für den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) muss letzte Woche im Bundestag wohl eine große Enttäuschung gewesen sein. Er hatte sich auf eine Debatte mit seinem Erzfeind und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eingestellt. Dieser fehlte aber spontan aufgrund eines Defekts an einem Regierungsflugzeug und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) musste für ihn einspringen.