Seit dem Überfall der Hamas auf Israel vor rund einem Monat tobt ein Krieg in Nahost. Ein weiterer Krieg auf der langen Liste des Nahost-Konflikts. Eine Schlacht, die massiv emotional aufgeladen ist. Und die Emotionen bleiben nicht im Nahen Osten. Stattdessen polarisieren sie aktuell die ganze Welt. Per Social Media, in den Nachrichten, in Telegram- und Whatsapp-Channels – überall wird über den Israel-Gaza-Krieg gesprochen. Zahlreiche Fake News sind im Umlauf.
Und auf den Straßen Deutschlands brechen sich die Emotionen immer wieder Bahn. Und das nicht nur auf legale und harmlose Art und Weise der freien Meinungsäußerung, sondern in Teilen auch in Form strafrechtlich-relevanter Taten.
Der Extremismus-Forscher Peter Neumann vom Kings College in London macht auf X, früher Twitter, deutlich: Er macht sich um die deutsche Gesellschaft große Sorgen. Und diese Sorgen haben nicht nur mit den Demonstrationen zu tun, sondern auch und gerade mit der Reaktion unserer Politiker:innen.
So sind am vergangenen Wochenende deutschlandweit tausende Menschen auf die Straße gegangen, um ihre Solidarität mit Palästina zum Ausdruck zu bringen. In Berlin sollen laut Polizei knapp 9000 Teilnehmer:innen bei einer Kundgebung gewesen sein. Der Demo-Verlauf sei mehrheitlich friedlich gewesen, trotzdem habe es dutzende Anzeigen gegeben. Dabei handelte es sich vor allem um den Verdacht der Volksverhetzung oder Aufrufe zu Straftaten.
In Essen in Nordrhein-Westfalen sah die Lage weniger friedlich aus. Neben pro-palästinensischen Fahnen seien dort auch Symbole zur Schau getragen worden, die denen des Islamischen Staats und der Taliban ähnelten. Nach Angaben von NRW-Innenminister Herbert Reul prüft die Staatsanwaltschaft ein Video, das bei der Essener Kundgebung aufgenommen wurde, auf den Verdacht der Volksverhetzung. Das sagte der CDU-Politiker am Samstagabend im WDR-Fernsehen.
Der Vorwurf, Antisemitismus sei mit der Einwanderung von Muslim:innen importiert worden, wird dieser Tage immer wieder von politischer Seite wiederholt. CDU-Chef Friedrich Merz schreibt etwa in seinem Newsletter "MerzMail":
Deutschland habe ein sehr großes Problem mit "jenen Migrantengruppen, die ein islamisches Recht und den Hass auf Israel über die staatliche Ordnung des Landes stellen, in dem sie leben", ist Merz überzeugt. Die Bundesregierung müsse deshalb ihre Einwanderungspolitik und das neue Staatsbürgerschaftsrecht noch einmal kritisch überprüfen.
Es sind wohl Kommentare wie diese, die Extremismusforscher Neumann zu seiner Analyse bringen. Auf X schreibt er: "Zu argumentieren, 'der Islam' oder 'die Muslime' seien das Problem, ist keine Antwort. Sollen 5,5 Millionen Muslime in Deutschland eingesperrt oder abgeschoben werden? Wie soll das gehen? Populismus, egal woher, ist fast immer destruktiv, niemals konstruktiv."
Der Ruf nach schnelleren Abschiebungen wird immer wieder laut. Erst kürzlich hat Kanzler Olaf Scholz (SPD) versprochen, dass in Zukunft konsequenter und schneller abgeschoben werden soll.
Neumann stellt klar, dass seine Analyse nicht bedeutet, die Integrationspolitik in Deutschland sei erfolgreich. Es müsse überlegt werden, welche Programme sinnvoll sind und ob sie die richtigen Menschen erreichen. Aber Neumann stellt auch klar: "Was nicht auf den Prüfstand muss: die Idee, dass Menschen verschiedener Herkunft und Religion – Muslime, Juden, Christen – in einer Gesellschaft zusammenleben können." Die aktuelle Situation sei ein Test dafür. Jetzt könne den Feind:innen der offenen Gesellschaft bewiesen werden, dass das möglich ist.
Neumann ist sich außerdem sicher: Extremist:innen profitieren von der massiven Polarisierung in diesem Krieg. Der Nahost-Konflikt sei ein Thema, zu dem jede:r eine Meinung habe – allerdings würden nur wenige verstehen, was dort wirklich passiert. Seit Wochen erreichten den Experten Links zu Social-Media-Beiträgen, mit denen sich Bekannte oder Familienmitglieder zum ersten Mal über diesen Konflikt informierten. "Sehr wenig davon ist differenziert oder fundiert", stellt Neumann klar.
Am Ende seien es Extremist:innen, die von dieser Polarisierung profitieren und diese sogar mit Absicht und Kalkül anheizen. "Nichts polarisiert mehr als Mord, Totschlag und ein vermeintlicher Genozid", schreibt Neumann. Und nichts eigne sich besser dafür, als ein Konflikt zwischen Jud:innen und Muslim:innen im Heiligen Land.
Islamisten wüssten genau, wie eine solche Stimmung ausgenutzt werden könnte. Sie mobilisieren mit dem Leiden der Palästinenser, meint Neumann, dabei brächten sie dann ihre eigenen extremen Botschaften unter. Neumann schreibt: "Als gäbe es nur schwarz oder weiß; Juden oder Muslime; Unterwerfung oder Kalifat. So funktioniert Polarisierung."
Dabei sei es kein Problem, dass sie vom Rest der Gesellschaft beschimpft würden. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall:
Die Erzählung sei dann: "Die Deutschen hassen nicht nur die Palästinenser, sie hassen Dich, weil Du Muslim bist." Was folge sei die Entscheidung, auf welcher Seite man in diesem Fall stehen wolle. Laut Neumann funktioniert genau so Radikalisierung. Antisemitismus sei ein Riesenproblem in Deutschland, stellt der Extremismus-Forscher klar, auch in migrantischen Communitys. Klar sei aber auch:
(Mit Material der dpa)