Ein lautes Krachen reißt ihn aus dem Schlaf. Darauf folgt das Jaulen von Sirenen. Als Ori Aviram am Samstagmorgen aufwacht, war er sich sicher, er wäre noch in der Ukraine.
Doch er liegt in seinem Bett, in der Stadt Yavne in Israel, etwa 60 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Erst vor einer Woche ist er aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine zurückgekehrt. Der 34-Jährige reist als Fotograf und Filmemacher um die Welt, zuletzt arbeitete er für ein Jahr in der Ukraine. Dort dokumentierte er die traumatische Lage der Menschen im russischen Angriffskrieg.
Zurück in der Heimat wollte sich Ori erholen, Familie und Freunde sehen. Doch der Krieg folgte ihm.
"Nach einer Stunde wurde mir klar, diesmal handelt es sich nicht nur um ein paar Raketen", sagt Ori im watson-Gespräch. Ihm wurde das Ausmaß des Angriffs bewusst. An sich seien Explosionen und der Alarm der Sirenen auch in Israel nichts Außergewöhnliches. Seit Jahrzehnten befindet sich das Land im Konflikt mit den arabischen Staaten, besonders mit den Palästinenser:innen.
Doch diesmal war alles anders.
"Es ist einer der schlimmsten Tage, den Israel je erlebt hat", meint Ori. Der blutigste in den vergangenen 50 Jahren. Laut Angaben sollen bisher mehr als 1000 Menschen bei dem Terrorangriff ums Leben gekommen sein. Davon allein etwa 250 Gäste eines Festivals nahe des Gazastreifens – junge Menschen, die einfach nur eine gute Zeit haben wollten. Unter den Opfern befinden sich offenbar auch Staatsbürger:innen aus Deutschland und den USA.
Auch Oris Familie und Freunde kamen den Terroristen gefährlich nahe.
"Meine Cousinen und Freunde leben unweit vom Gazastreifen. Terroristen brachen in ihre Häuser ein, zerstörten alles. Sie mussten sich mehr als zwölf Stunden in ihren Schutzräumen versteckt", erzählt er. Die Hamas habe versucht, einzudringen, aber zum Glück konnten sie die Schutztür nicht öffnen, "sonst wäre meine Cousine, ihr Mann und ihre Kinder jetzt wohl tot oder entführt", sagt er.
Es nehme einen natürlich mit, wenn es dann auf einmal die eigene Familie betrifft, lautet seine Antwort auf die Frage, was das ihn ihm auslöse. Selbst nach einem Jahr in der Ukraine, wo er viel Elend gesehen habe. Mittlerweile sei es seiner Familie aber gelungen, sich in Sicherheit zu bringen.
Doch Ori ist sich sicher: "Der Krieg ist weit davon entfernt, vorbei zu sein. Es hat noch nicht einmal richtig begonnen." Vor allem die Entführung von mehr als 100 Menschen, darunter auch Kinder und ältere Leute, verkompliziert die Lage enorm.
"Das wird nicht gut ausgehen", meint er.
Ori erinnert sich dabei an die Entführung eines Soldaten 2006 durch die Hamas nach Gaza, zwei weitere Soldaten wurden damals auch von der Hisbollah in den Libanon gekidnappt. "Es war unglaublich schwer für uns als Staat und Nation, damit umzugehen. Diese Menschen wieder nach Hause zu bringen", sagt er. Die israelische Regierung war damals bereit, einen hohen Preis zu zahlen – doch jetzt ist es anders. "Wir sprechen nicht von einer oder zwei Personen, sondern von mehr als hundert", betont Ori.
Unter den entführten Menschen befinden sich auch viele Frauen. Grausame Bilder gingen auf Social Media viral, wie etwa die Aufnahme eines nackten, misshandelten Frauenkörpers, den die Hamas zur Schau stellte. Auch terrorisierten sie Familien in ihren Häusern, erschossen willkürlich Menschen in ihren Autos und massakrierten junge Leute auf dem Festival. "Das war schon immer die Taktik der Hamas, nur hatten sie bisher nicht die Chance, es in diesem Ausmaß zu vollziehen", meint der Israeli.
Das seien keine neuen Taktiken, diesmal seien sie damit einfach erfolgreich gewesen.
"Diese Taten der Terrororganisation Hamas überraschen mich nicht – eigentlich niemanden in Israel, den ich kenne", meint Ori. Es stehen Spekulationen im Raum, die Terrorgruppe hätte sich von den russischen Taktiken in der Ukraine "inspirieren" lassen – wo die Russen nicht vor sexualisierter Gewalt und gezielten Angriffe auf Zivilist:innen zurückschrecken. "Auf keinen Fall", betont Ori. Dann wohl eher andersherum: "Die Russen haben sich das grausame Vorgehen von der Hamas abgeschaut."
Die Hamas sei eine Terrororganisation. Laut Ori sind ihre Ziele anders, ihr Vorgehen ist anders, sie morden kaltblütig Menschen. Und jetzt habe wohl auch der Rest der Welt endlich das wahre Gesicht dieser Terrororganisation gesehen, meint er. Laut ihm ist dieser Terrorangriff mit nichts zuvor vergleichbar. Auch nicht mit den militärischen Auseinandersetzungen, die Israel etwa mit Ägypten, Syrien oder Libanon hatte.
Es falle ihm schwer, Worte zu finden, was der Terrorangriff der Hamas in ihm auslöse – gerade jetzt, wo er frisch aus der Ukraine kommt. "Es liegen viele tote Menschen auf den Straßen, daran sind wir nicht unbedingt gewöhnt in Israel", sagt er. Nicht in diesem Ausmaß. Die Bilder in Israel erinnern ihn an viele Erlebnisse in der Ukraine.
Währenddessen feiern auch auf den Straßen in Europa und in den USA Menschen die Aktionen der Hamas. "Diese Menschen bejubeln Terrorismus. Sie verstehen nicht, dass sie damit nicht die Palästinenser unterstützen", sagt Ori. Seiner Meinung nach feiern sie eine Terrorgruppe, der die Menschen in Palästina egal seien.
"Der Hamas geht es nicht um Frieden, darum, eine friedliche Lösung zwischen Palästinensern und Israelis zu finden", sagt Ori. Der Konflikt sei komplex. Der Fotograf und Filmemacher führt aus:
Ori habe seine Gedanken über den Nahostkonflikt, darüber, was alles in Gaza und im Westjordanland geschieht und wie man eine Lösung finden könnte. Aber jetzt würde er ohne eine Sekunde zu Zweifeln in den Krieg ziehen. Denn: Er würde auf der richtigen Seite gegen Terrorismus kämpfen.
Als ehemaliger Offizier steht die Chance hoch, dass er eingezogen wird, sollte die Lage weiter eskalieren. Bis dahin werde er seiner eigentlichen Arbeit nachgehen: In den Süden Israels gehen und die blutigen Auseinandersetzungen dokumentieren. "Aber es ist keine Frage, wenn mich das Militär ruft, tausche ich die Kamera gegen eine Waffe und kämpfe."