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Jens Spahn über Italien: "An einem Tag öfter kontrolliert als hier in zwei Wochen"

Jens Spahn im Bundesgesundheitsministerium
Jens Spahn auf einem Balkon des Bundesgesundheitsministeriums in Berlin. bild: dirk lässig für watson
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"Alle haben in der Pandemie unwiederbringliche Momente verloren": Gesundheitsminister Jens Spahn im watson-Interview zur Lage junger Menschen in der Corona-Krise – und zur Zukunft der CDU

24.09.2021, 10:1424.09.2021, 12:49
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Wenn es ein politisches Gesicht der Corona-Pandemie in Deutschland gibt, dann ist es das von Jens Spahn. Der Bundesgesundheitsminister hat seit März 2020 die Verantwortung für die Beschaffung von Schutzkleidung und später von Impfstoffen getragen. Er wurde erst zu einem der beliebtesten Politiker der Republik – und stürzte dann, während des langen zweiten Lockdowns im Corona-Winter, in der Beliebtheit ab.

Schon bevor die Pandemie Deutschland überrollte, hatte Spahn seine Kandidatur als CDU-Vizechef bekannt gegeben, an der Seite Armin Laschets. Heute steht der 41-Jährige vor dem Ende seiner ersten Amtszeit als Gesundheitsminister – und laut Umfragen möglicherweise vor einem verheerenden Wahlergebnis seiner Partei.

watson hat Spahn kurz vor Ende der Bundestagswahl zum Interview getroffen. Wir haben mit ihm über das Ende der Corona-Pandemie und den Weg dorthin gesprochen, über das Gefühl junger Menschen, vergessen worden zu sein – und die Frage, ob er Angst vor der Zukunft seiner Partei hat.

watson: Herr Spahn, was machen Sie am ersten Tag, an dem Sie kein einziges Mal das Wort Corona hören werden?

Jens Spahn: Na, dann freue ich mich, weil wir dann raus sind aus der Pandemie. Und auf diesen Tag freuen sich, glaube ich, sehr viele Deutsche.

Sie haben der "Augsburger Allgemeinen" gesagt, dass sie damit rechnen, dass es im Frühjahr 2022 so weit ist. Was macht Sie denn so zuversichtlich – obwohl die Impfungen weiter nur sehr schleppend vorankommen?

Ich möchte noch einmal eines klarmachen: Die Herdenimmunität, die wir brauchen, um die Pandemie zu überwinden, werden wir auf jeden Fall erreichen.

Die Zahl der Impfungen stagniert zurzeit.

Wir erreichen sie tatsächlich entweder durch Impfung oder durch Infektion. Und das Risiko, dass Menschen ohne Schutzimpfung sich im Herbst und Winter mit dieser ansteckenden Delta-Variante anstecken, ist sehr hoch. Deswegen werbe ich für die sicherere Alternative, die Impfung. Jedenfalls bedeutet das mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, dass wir im Frühjahr 2022 zur Normalität zurückkehren.

"Auf den Intensivstationen sind fast nur Covid-19-Patienten ohne Impfung. Und darüber sind natürlich Pflegekräfte, die jetzt drei Wellen mit vollen Intensivstationen und viel Stress hinter sich haben, enorm frustriert. Ich verstehe das gut."

Sie sagen also: Die Frage ist bei dieser Pandemie nicht mehr, wann wir ans Ziel kommen – sondern, wie der Weg dorthin aussieht.

Die Frage ist vor allem, wie belastend der Weg ist: Wie viele Kranke und Tote es noch geben wird und wie viel Belastung für Pflegekräfte. Ich sage übrigens jedem, der mir erzählt "Es ist meine Entscheidung, ob ich mich impfen lasse”, dass das nur die halbe Wahrheit ist.

Weil?

Weil jeder Ungeimpfte mindestens für die Pflegekräfte auch mitentscheidet. Ich war in den letzten zwei, drei Wochen in vielen Kliniken. Ob in Essen oder in Mühldorf am Inn in Bayern: Auf den Intensivstationen sind fast nur Covid-19-Patienten ohne Impfung. Und darüber sind natürlich Pflegekräfte, die jetzt drei Wellen mit vollen Intensivstationen und viel Stress hinter sich haben, enorm frustriert. Ich verstehe das gut.

Jens Spahn im Bundesgesundheitsministerium
Jens Spahn beim Interview mit watson in seinem Büro.bild: dirk lässig für watson
"Ich bin bei meinem Kurzbesuch in Rom zum Treffen der Gesundheitsminister der G20-Staaten an einem Tag öfter kontrolliert worden als hier in zwei Wochen."

Wenn man die Impfquoten in der EU vergleicht, dann fällt auf, dass ein paar Länder deutlich besser dastehen als Deutschland: In Portugal, Spanien und Dänemark sind die Quoten um mehr als zehn Prozentpunkte höher als hier. Was machen die Regierenden dort besser?

Ich habe eher den Eindruck, dass in diesen Ländern einfach noch mehr Bürgerinnen und Bürger den Weg mitgehen, weil sie die Pandemie viel härter erlebt haben. Die Regierungen machen aus meiner Sicht gar nicht so viel anders als wir. Ich möchte aber betonen, dass sich auch in Deutschland vier von fünf Erwachsenen impfen lassen haben.

Aber es ist eben noch Luft nach oben.

Andere Länder gehen aber auch stärker dahin, die Bürger zur Impfung quasi zu verpflichten. Bei uns in Deutschland sehen wir ja schon bei der Frage, ob Ungeimpfte in Quarantäne weiter ihren Lohn bekommen sollen, welche Spannungen da entstehen.

Ein schmaler Grat für Sie?

Eigentlich für uns alle. Zum einen muss man unterscheiden zwischen Geimpften und Ungeimpften, schon allein aus medizinischen Gründen. Zum anderen riskiert man, Menschen zu verlieren, wenn man zu viel Druck ausübt. Die Balance zu halten ist schwierig.

In Italien dürfen seit Kurzem nur noch Geimpfte, Getestete und Genesene in öffentliche Verkehrsmittel und an den Arbeitsplatz. Seither sind die Impfquoten dort noch einmal merklich nach oben geschnellt. Warum trauen sich die Regierenden das in Deutschland nicht?

Es geht nicht nur darum, was man sich traut. Sondern auch darum, was notwendig ist. Aus unserer Sicht bietet die Maske im öffentlichen Nah- und Fernverkehr hinreichenden Schutz. Und in vielen Bereichen gilt ja schon die 3G-Regel – also Zutritt nur für Geimpfte, Genesene und Getestete. Ich würde mir in Deutschland aber auch etwas anderes wünschen.

Was meinen Sie?

Dass wir die Nachweise noch mehr kontrollieren. Ich bin bei meinem Kurzbesuch in Rom zum Treffen der Gesundheitsminister der G20-Staaten an einem Tag öfter kontrolliert worden als hier in zwei Wochen.

Da erschüttern Sie aber gerade ein paar Klischees, die manche Deutsche über Italien haben.

In der Tat. Die Italiener haben aber auch richtig harte Zeiten in der Pandemie hinter sich. Da kann man deren Vorsicht verstehen. Ich glaube, dass mehr verbindliches Überprüfen auch bei uns noch den einen oder anderen überzeugen kann, sich impfen zu lassen.

Jens Spahn im Bundesgesundheitsministerium
Auch Jens Spahn erlebt Hass von "Querdenkern", wenn er öffentlich auftritt – man beschimpfe ihn laut als "Mörder" und "Volksverräter", erzählt er watson.bild: dirk lässig für watson
"Menschen, die geimpft sind, können einkaufen gehen oder sich mit anderen treffen, egal wie hoch die Inzidenz ist."

Sie versprechen seit Wochen, dass es einen weiteren Lockdown für Geimpfte nicht geben wird. Was macht Sie eigentlich so sicher?

Die Voraussetzung dafür ist, dass es keine Variante des Virus gibt, gegen die Impfungen nicht wirken. Aktuell sehen wir das nicht. Wenn die Impfstoffe weiter wirken, gibt es weder rechtlich noch medizinisch einen Grund, Geimpfte in ihrer Freiheit einzuschränken. Menschen, die geimpft sind, können einkaufen gehen oder sich mit anderen treffen, egal wie hoch die Inzidenz ist.

Auch wenn es keinen Lockdown mehr geben sollte: Während der Corona-Pandemie haben sich manche Menschen in Deutschland radikalisiert. Am vergangenen Wochenende hat in Idar-Oberstein ein Mann einen jungen Tankstellenkassierer erschossen – mutmaßlich, weil der ihn auf die Maskenpflicht hingewiesen hatte. Was haben Sie gedacht, als Sie davon erfahren haben?

Das macht mich fassungslos, traurig und wütend zugleich. Weil es nicht mal im Affekt passiert ist, sondern offenbar eine überlegte, kaltblütige Tat war. Und ich frage mich: Was führt dazu, dass jemand sich so verirrt in einer Gedankenwelt, die ihn glauben lässt, so eine grausame Tat sei gerechtfertigt?

Haben Sie Antworten auf diese Frage?

Das hat viel zu tun mit Hass, Hetze, Verschwörungsmythen, die in sozialen Medien allgegenwärtig sind. Am Dienstag in Aalen in Baden-Württemberg hatte ich wieder so eine Begegnung, am Rande einer Veranstaltung. Drinnen hatte ich auch mit Bürgerinnen diskutiert, die kritisch waren. Und solange man miteinander reden kann, ist das ja gut. Aber draußen waren dann Demonstranten, die die Impfung mit Massenmord verglichen haben und mir "Mörder" und "Volksverräter" zugerufen haben.

Woher kommt dieser Hass aus Ihrer Sicht?

Wenn jemand sich immer weiter in diese Welt aus Verschwörungsmythen hineinbegibt, dann glaubt sie oder er irgendwann berechtigt zu sein, den Worten Taten folgen zu lassen. Das ist ja das, was Extremismus ausmacht: Rechtsextremismus, Linksextremismus, Islamismus und diesen Pandemie-Extremismus.

Jens Spahn im Bundesgesundheitsministerium
Jens Spahn im Interview mit watson-Politikredakteur Sebastian Heinrich. bild: dirk lässig für watson
"Was soll denn helfen, wenn nicht Gespräche? Für viele Menschen waren diese Pandemiemonate eine harte Zeit, auch emotional: für Kinder, Jugendliche, Familien, für Leute, bei denen es auf einmal um die wirtschaftliche und berufliche Existenz ging."

Sie sind in den vergangenen Monaten immer wieder auch auf Menschen aus dem "Querdenker"-Milieu zugegangen, die Sie beschimpft hatten – und haben versucht, mit ihnen zu sprechen. Die Videos davon sind durch soziale Netzwerke und Medien gegangen. Denken Sie nach der Tötung in Idar-Oberstein darüber nach, was bei diesen Aufeinandertreffen hätte passieren können?

Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Sonst könnte ich ja irgendwann überhaupt nicht mehr mit Leuten ins Gespräch kommen. Gott sei Dank gibt es ja auch Polizistinnen und Polizisten, die auf mich aufpassen. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nie. Aber wer die will, muss sich zu Hause einschließen.

Sie sind auch kritisiert worden, weil sie diese Gesprächsangebote gemacht haben: Zum Beispiel im April, als Sie auf die Initiatoren der #allesdichtmachen-Kampagne zugegangen sind. Bereuen Sie das heute?

Nein, im Gegenteil. Was soll denn helfen, wenn nicht Gespräche? Für viele Menschen waren diese Pandemiemonate eine harte Zeit, auch emotional: für Kinder, Jugendliche, Familien, für Leute, bei denen es auf einmal um die wirtschaftliche und berufliche Existenz ging. Dass da viel Frust ist, verstehe ich. Deshalb werbe ich dafür, gerade dann auch bei sehr unterschiedlichen Meinungen miteinander zu reden.

"Wenn ich zu Menschen hingehe und nur höre 'Hau ab! Hau ab!' oder 'schwule Sau', dann ist kein Gespräch möglich. Trotzdem muss man es immer wieder probieren."

Wo ziehen sie da die Grenze? Mit wem reden Sie nicht mehr?

Wenn ich zu Menschen hingehe und nur höre "Hau ab! Hau ab!" oder "schwule Sau", dann ist kein Gespräch möglich. Trotzdem muss man es immer wieder probieren. Und weil Sie #allesdichtmachen erwähnt haben: Da ging es um Künstler – Menschen, die etwas ausgedrückt haben, das sie in der Lockdown-Zeit beschäftigt hat...

...die aber auch teilweise Verschwörungsmythen über Politik und Medien verbreitet haben.

Ja. Aber es hilft manchmal trotzdem, die Leute mit ihren Vorwürfen zu konfrontieren. Ich hab' da auch mal zum Beispiel gefragt: Warum sollte der Spahn Gefallen daran finden, Menschen irgendwie einzuschränken? Wie kommt ihr auf die Idee, dass mir das hier Spaß macht? Aber das kriegt man nur hin, wenn man miteinander redet. Und das finde ich schon wichtig.

"Ja, es gibt Momente, in denen ich vor brüllenden Menschen stehe und denke: Du wärst jetzt lieber bei deinen Freunden und deiner Familie. Aber im nächsten Moment denke ich: Du bist in die Politik gegangen, weil du Verantwortung für das große Ganze übernehmen willst."

Bei den Kollegen der "Welt" war zu lesen, dass sie der erste Bundesgesundheitsminister sind, der in einer gepanzerten Limousine unterwegs ist. Macht das was mit Ihnen?

Es zeigt mir, was los ist in unserem Land, wie spannungsreich diese Zeit ist, auch für mich als Gesundheitsminister. Ich versuche trotzdem, die Dinge weiter so normal wie möglich zu machen. Aber der spontane Besuch auf dem Marktplatz ist eben schwieriger als vorher.

Wie oft haben Sie sich gedacht: Warum tue ich mir das an?

Nie. Zu meinem Verständnis von Politik gehört es, Verantwortung zu übernehmen, gerade in so einer Pandemie. Das bedeutet dann eben auch, die Entscheidungen, die wir als Regierung oder als Bundestag gemeinsam getroffen haben, nach außen zu vertreten. Aber ja, es gibt Momente, in denen ich vor brüllenden Menschen stehe und denke: Du wärst jetzt lieber bei deinen Freunden und deiner Familie. Aber im nächsten Moment denke ich: Du bist in die Politik gegangen, weil du Verantwortung für das große Ganze übernehmen willst. Und solche Dinge gehören dann halt dazu.

Sie haben andererseits im Winter auch viel und heftige Kritik von Medien und vom politischen Gegner bekommen: Weil die Impfkampagne nicht anlief, wegen überteuerter Maskenkäufe. Haben Sie da manchmal gedacht: “Ich lass' das jetzt einfach sein”?

Nö. So bin ich nicht gestrickt. Wenn ich etwas beginne, dann will ich es auch zu einem guten Ende bringen.

Jens Spahn im Bundesgesundheitsministerium
"Vielleicht ist das der Münstlerländer in mir": Jens Spahn auf die Frage, woher er die nötige Kraft für sein Amt hat.bild: dirk lässig für watson
"Ich gehe gerne spazieren. Und manchmal sehe ich dann einen alten Baum und denke mir: Der hat schon viel mehr erlebt als du, dann stehe ich das hier jetzt auch durch."

Woraus ziehen Sie dann Kraft?

Vielleicht ist es der Münsterländer in mir. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, weil die mich durch ihre Erziehung resilient haben werden lassen. Resilient sein heißt ja nicht, dass du die Dinge nicht an dich ranlässt. Es heißt aber, seinen Gefühlshaushalt nicht so leicht durcheinander bringen zu lassen. Ich gehe gerne spazieren. Und manchmal sehe ich dann einen alten Baum und denke mir: Der hat schon viel mehr erlebt als du, dann stehe ich das hier jetzt auch durch.

Besonders junge Menschen haben in der Corona-Zeit verdammt viel durchstehen müssen: geschlossene Unis, monatelang fast keine Freizeitmöglichkeiten, eine drastische Zunahme psychischer Erkrankungen. Viele junge Erwachsene haben das Gefühl, sie hätten einen Teil ihrer Jugend unwiederbringlich verloren.

Alle haben in der Pandemie unwiederbringliche Momente verloren.

Aber für junge Menschen, in der Zeit zwischen Schulabschluss und Berufsbeginn, ist das besonders schmerzhaft, denken Sie nicht?

Ja, aber das ist auch das, was das Wort Schicksal meint. Das ist eine Jahrhundert-Pandemie, über die die Welt noch in 100 Jahren reden wird. So, wie wir heute noch über die Spanische Grippe reden. Ein sechsjähriges Kind hat jetzt ein Viertel seines Lebens in dieser Pandemie verbracht. Das ist hart. Das ist ungerecht. Ein Naturereignis ist über uns gekommen. Dafür gibt es keinen Schuldigen.

Das hört sich an, als wären wir machtlos.

Ein Stück weit ist das so. Es geht nicht darum, die persönlichen Erlebnisse zu relativieren. Wir sollten aber akzeptieren, dass es eben ein Naturereignis ist. Das heißt ja nicht, dass das ganze Leben futsch ist oder dass es deswegen keine guten Jahre mehr geben kann.

"Auch nach der Pandemie leben junge Menschen heute im besten Deutschland, das es jemals gab."

Trotzdem haben viele junge Menschen den Eindruck, vernachlässigt worden zu sein. Im Januar hat in einer Umfrage für watson eine überwältigende Mehrheit der jungen Erwachsenen gesagt, auf ihre Interessen werde nicht geachtet. Die Angst vor der Zukunft hat bei jungen Menschen während der Pandemie massiv zugenommen. Was haben Sie als Bundesregierung da falsch gemacht?

Viele haben sich in dieser Pandemie alleine gelassen gefühlt, das war eine harte Zeit. Und wir haben über wenige Themen so gerungen wie darüber, ob wir Schulen, Kitas und Unis schließen sollen. Weil wir wissen, was das für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bedeutet. Keiner hat sich das leicht gemacht. Wir haben versucht, das bestmöglich abzufedern.

Es bleiben auch Spuren.

Wir haben einiges aufzuarbeiten: psychosomatische Erkrankungen, die entstanden sind, mangelnde Bildungschancen. Als die Schulen geschlossen haben, hat es die besonders hart getroffen, die es vorher schon schwer hatten, weil zu Hause vielleicht keiner helfen will oder kann. Und dann sind wir wieder bei dem Punkt, den ich vorhin schon angesprochen habe.

Nämlich?

Es hilft nur reden, um etwas tun zu können. Ich finde aber: Auch nach der Pandemie leben junge Menschen heute im besten Deutschland, das es jemals gab. Wenn ich mit jungen Menschen rede, sage ich ihnen immer: Ihr habt ein Leben vor euch wie keine Generation zuvor, was Wohlstand, technologischen Fortschritt und Mobilität angeht.

Naja, junge Menschen mussten anderthalb Jahre lang mit Maske auf der Schulbank oder zu Hause vor dem Laptop sitzen und durften kaum Freunde treffen. Auf der anderen Seite dürfen ältere Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, heute ins Fußballstadion gehen oder in den Urlaubsflieger steigen. Trauen sich die Regierungsparteien einfach nicht, älteren Menschen so viel zuzumuten wie jüngeren – weil die Älteren einen größeren Teil der Wähler ausmachen?

Nein, das ist nicht der Punkt. Und bei der Schule ist es ja nicht so einfach: Es gibt weiterhin Eltern und zum Teil auch Kinder und Jugendliche, die sagen: Ohne Maske und Test gehe ich nicht in die Schule, weil ich Angst vor einer Infektion habe. Und außerdem dauert der Aufenthalt in der Schule natürlich deutlich länger als die meisten Restaurantbesuche.

Jens Spahn im Bundesgesundheitsministerium
"Ich verstehe, dass dieser Eindruck manchmal entsteht": Spahn über junge Menschen, die sich in Corona vernachlässigt fühlen.bild: dirk lässig für watson
"So mussten wir zum Beispiel die Bordelle wieder aufmachen, während die Schulen noch geschlossen waren. Das kann man Schülerinnen und Schülern schwer bis gar nicht erklären."

Trotzdem entsteht bei vielen der Eindruck, dass die Interessen junger Menschen weniger wert sind.

Ich verstehe, dass dieser Eindruck manchmal entsteht. Wir wurden ja teilweise durch Gerichtsurteile zu Maßnahmen gezwungen, die nur schwer verständlich waren. So mussten wir zum Beispiel die Bordelle wieder aufmachen, während die Schulen noch geschlossen waren. Das kann man Schülerinnen und Schülern schwer bis gar nicht erklären. Oft wurden in solche Entscheidungen Wertungen reingelesen, die es überhaupt nicht gab.

Eine Folge des Coronavirus, die besonders jüngere Menschen betrifft, ist das Long-Covid-Syndrom, das manche Covid-Erkrankte noch Monate später plagt und ihr Leben zur Hölle macht. Was versprechen Sie jungen Menschen, die davon betroffen sind?

Wir können zusagen, dass wir die Forschung in diesem Bereich unterstützen. Wir wissen ja bis heute nicht wirklich gut, was bei Long Covid im menschlichen Körper passiert. Wir werden mithelfen, dass mehr Behandlungszentren und Expertise entstehen, bisher gibt es nur zwei, drei Standorte für Behandlungen in Deutschland. Und wir unterstützen die Forschung an Medikamenten.

Viele, die an Long Covid erkrankt sind, haben das Gefühl, nicht gesehen zu werden.

Diese Woche Mittwoch haben wir dazu einen Bericht mit konkreten Maßnahmen im Kabinett vorgelegt. Die Regierung beschäftigt sich mit dem Thema. Wir arbeiten daran, den Menschen zu helfen. Es sind ja wahrscheinlich Hunderttausende betroffen.

"Ich habe das öfter erlebt, wenn ich mit grünen und roten Spitzenpolitikern in Veranstaltungen bin. Die reden dann immer vom angeblich abgehängten ländlichen Raum. Was soll dieses blöde, pauschale Adjektiv?"

Herr Spahn, der Bundestagswahlkampf ist im Endspurt. Der Ton ist gerade so hitzig wie seit vielen Jahren nicht mehr.

Finden Sie?

Ja, zumindest seit Angela Merkel Kanzlerin geworden ist. Sie sind mit dem Vorwurf aufgefallen, dass die SPD aus Deutschland "ein großes Berlin-Mitte" machen wolle. Sie arbeiten jetzt seit 2002 in Berlin-Mitte. Finden Sie es so schrecklich hier?

Nein. Was ich meine, ist… Jetzt muss ich natürlich aufpassen. Bei watson sind ja wahrscheinlich auch lauter Akademiker...

Herr Spahn, wir sind ein Nachrichtenportal für alle jungen Menschen, nicht nur für Akademiker. Wir lassen regelmäßig Leute zu Wort kommen, die aus allen gesellschaftlichen Schichten stammen.

Was ich jedenfalls mit meinem Satz über Berlin-Mitte meinte: Viele städtische Akademiker blicken abschätzig auf den ländlichen Raum. Ich habe das öfter erlebt, wenn ich mit grünen und roten Spitzenpolitikern in Veranstaltungen bin. Die reden dann immer vom angeblich abgehängten ländlichen Raum. Was soll dieses blöde, pauschale Adjektiv? Die allermeisten ländlichen Räume sind hochattraktiv. Familien ziehen dahin, da ist richtig was los. Da ist die Lebensqualität hoch.

Aber muss man daraus immer so einen Gegensatz machen: Hier das böse Berlin-Mitte, da das gute Münsterland?

Mir geht es darum, klarzumachen, dass zum Beispiel Menschen in meinem Heimatdorf mit 3700 Einwohnern nie so an Bus und Bahn angebunden werden können, dass sie ohne Auto auskommen. Und dann sage ich den Menschen: Wer bei uns grün wählt, der kann seine Autoschlüssel gleich hinterher in die Wahlurne schmeißen.

Sowas hört man öfter in diesem CDU-Wahlkampf.

Das ist zugespitzt, ja. Aber das ist alles im Rahmen des Vertretbaren für einen Wahlkampf.

"Es ist nicht gottgegeben, dass wir bei Jüngeren schlechter ankommen": Jens Spahn im Gespräch mit watson-Redakteur Sebastian Heinrich.
"Es ist nicht gottgegeben, dass wir bei Jüngeren schlechter ankommen": Jens Spahn im Gespräch mit watson-Redakteur Sebastian Heinrich.bild: dirk lässig für watson

Schauen wir auf Ihre Partei. Vor ziemlich genau einem Jahr lagen CDU und CSU in Umfragen bei 36 bis 38 Prozent, jetzt liegen sie um die 20. Haben Sie Angst, dass es Ihre Partei zerlegt, wenn sie diese Wahl verliert?

Was heißt hier zerlegt? Wir hatten ja schon mal 23 Prozent in den Umfragen: Als Armin Laschet und ich im Februar 2020 das Team gebildet haben, um für den Parteivorsitz zu kandidieren und die CDU zusammenzuhalten.

"Es ist nicht gottgegeben, dass wir bei Jüngeren schlechter ankommen. Sondern es liegt immer daran, was wir anbieten: welches Programm, welches Team."

Inzwischen waren sie aber schon wieder bei fast 40 Prozent.

Klar, mich beschäftigt die Frage, was es mit der Gesellschaft macht, wenn momentan keine Partei mehr 30 Prozent der Bürgerinnen und Bürger erreicht. Ich bin überzeugt, dass wir als Union weiterhin so viele Menschen überzeugen können. Weil wir als einzige Volkspartei noch Menschen in der Stadt wie auf dem Land erreichen.

Bei jungen Menschen sind die Umfragewerte der CDU besonders schlecht: Laut YouGov liegen Sie nur bei 12 bis 13 Prozent.

Wir haben als Union vor ein paar Jahren bei jungen Menschen auch schon mal vorne gelegen. Es ist nicht gottgegeben, dass wir bei Jüngeren schlechter ankommen. Sondern es liegt immer daran, was wir anbieten: welches Programm, welches Team.

"Ich glaube, gerade viele junge Menschen und solche mit Migrationshintergrund teilen unsere Werte. Gerade, weil wir kein Fähnchen im Wind sind und behalten wollen, was unser Wesenskern ist."

Momentan sind Sie aber eher der Vizechef einer Seniorenpartei.

Das Problem, dass sie bei älteren Wählern besser ankommen, haben fast alle Parteien.

Grüne und FDP nicht.

Ja, Grüne und FDP haben einen relativ großen Teil ihrer aktuellen Mitglieder in den letzten zehn Jahren gewonnen. Wir haben das nicht geschafft. Das zeigt aber, dass man junge Menschen erreichen kann.

Aber CDU und CSU versuchen seit Jahren, attraktiver zu werden für jüngere Menschen, für Frauen, für Menschen mit Migrationsgeschichte. Warum haben Sie das nicht geschafft?

Ich glaube, gerade viele junge Menschen und solche mit Migrationshintergrund teilen unsere Werte. Gerade, weil wir kein Fähnchen im Wind sind und behalten wollen, was unser Wesenskern ist. Da ist viel Potenzial, das wir erreichen können.

Können Sie mir diesen Wesenskern der CDU mal in ein paar Worten zusammenfassen?

Das ist ein Menschenbild, das die Menschen in kein Idealbild zwingen will – sondern sie so nimmt, wie sie sind. Es ist ein Freiheitsverständnis, das Freiheit immer zusammen mit Verantwortung für sich und andere sieht – und das Wissen, dass der Mensch immer Teil einer Gemeinschaft ist und keiner für sich alleine lebt. Und es ist das Wissen darum, dass die Familie der Kern allen menschlichem Zusammenlebens ist. Wir sind überzeugt, dass jeder Mensch etwas kann – und dass er bereit sein muss, dieses Können einzusetzen. Und dass Leistung einen Unterschied macht. Dass die CDU diesen Wesenskern hat, heißt aber nicht, dass sie sich nicht verändert.

Was meinen Sie?

Nehmen Sie das Thema Ehe. Wir haben darunter lange das verstanden, was die Kirche darunter versteht: Mann und Frau, zwei Menschen stehen füreinander ein und erklären das auch vor dem Staat. Zu unserem modernen Verständnis gehört aber, dass diese zwei Menschen auch zwei Männer oder Frauen sein können.

"Müssen eine Partei der Mitte bleiben": Jens Spahn über die Richtung der CDU.
"Müssen eine Partei der Mitte bleiben": Jens Spahn über die Richtung der CDU. bild: dirk lässig für watson
"Nur weil jemand konservativere Vorstellungen hat als Saskia Esken, ist er oder sie nicht rechtsradikal."

Haben Sie Angst, dass Ihre Partei nach rechts abdriftet, falls sie die Wahl verliert? Hans-Georg Maaßen kandidiert für Sie für den Bundestag. Und es gibt die Sorge, dass die CDU eine ähnliche Bewegung macht wie die britischen Konservativen oder die Republikaner in den USA.

Wir dürfen auf jeden Fall nicht die Fehler der SPD machen, die nur noch zu den Überzeugten in den eigenen Reihen gepredigt hat. Wir müssen eine Partei der Mitte bleiben, die Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen eine Heimat bietet. Wir müssen aus allen Richtungen in die Mitte integrieren.

Was heißt „aus allen Richtungen“?

Dass wir auch Menschen, die rechts der Mitte stehen, zu uns holen müssen. Jemand, der schon 1980 in der CDU war, soll bei uns auch seine Heimat finden, auch wenn sie oder er vielleicht ein anderes Gesellschaftsverständnis hat als jüngere Menschen. Nur weil jemand konservativere Vorstellungen hat als Saskia Esken, ist er oder sie nicht rechtsradikal.

Herr Spahn, wären Sie auch unter Olaf Scholz gerne Bundesgesundheitsminister?

Sie meinen, mit Olaf Scholz als Finanzminister?

Nee, unter Olaf Scholz als Bundeskanzler.

Wieso? Armin Laschet wird Kanzler.

Robert Habeck (Grüne) im Porträt: Ehefrau, Kinder, Gehalt und Kanzler-Ambitionen

Robert Habeck ist wohl eine der einprägsamsten Figuren der Politiklandschaft Deutschlands. Seit Dezember 2021 ist er Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz sowie Vizekanzler der Bundesrepublik. Als Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen hat er sich einen Namen als pragmatischer und kommunikationsstarker Politiker gemacht.

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