"Kanzlerin Merkel empfängt den ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Barroso" steht am Montag, 15. November, im Terminkalender der scheidenden Kanzlerin. Außerdem nimmt sie am "Evidenz-Gipfel" der WHO teil. Angela Merkel (CDU) ist auf Abschiedstour.
Rund 60 Prozent der Menschen in Deutschland würden die Kanzlerin aber lieber in Aktion sehen – bei der Rettung der Bevölkerung vor der vierten Corona-Welle. Das ist das Ergebnis einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Civey im Auftrag von watson durchgeführt hat.
Nicht nur die Kanzlerin wird vermisst.
Der Umfrage zufolge sehnen sich die Bürgerinnen und Bürger nach einer Regierung, beziehungsweise haben eben nicht das Gefühl, momentan adäquat regiert zu werden.
Man fragt sich also: Wo ist die Bundesregierung? Warum hat es so lange gedauert, dass Corona wieder zu einem der Hauptthemen in der öffentlichen Debatte geworden ist? Das hat watson verschiedene Politikerinnen und Politiker gefragt.
Das Bundesgesundheitsministerium wollte die Umfrage auf watson-Nachfrage nicht kommentieren. Auch führende Politiker und Politikerinnen der Grünen, der FDP, der SPD und der Union äußerten sich mit Blick auf die Umfrage – auch auf mehrfache Nachfrage – nicht.
Für die Linken-Politikerin und Ex-Chefin ihrer Partei, Katja Kipping, ist klar: "Wer es wissen wollte, konnte wissen, dass die vierte Welle bevorsteht. Aber offensichtlich haben sich viele Bundespolitiker einschüchtern lassen durch den Druck der Querdenker und Corona-Skeptiker", wie sie auf Anfrage der watson-Redaktion mitteilt.
In der Corona-Krise zeige sich ein verheerender Mechanismus, den Politik, Medien, Meinungsmacher und Bevölkerung zusammen befeuerten und bedienten: "Vorausschauendes Handeln und das Verhindern von Krisen wird ungern gesehen." Erst wenn ein Problem so groß sei, dass es nur noch mit drastischen Maßnahmen einzuschränken sei, gebe es Aufmerksamkeit und eine wachsende Bereitschaft für die notwendigen Maßnahmen.
Auch wenn viele Menschen laut der Civey-Umfrage momentan eine Führung vermissen und sich nach einer Regierung sehnen, stellt Kipping ihre Forderungen klar an die wahrscheinlich zukünftige Regierung, also an die Ampel: "Die Spitzen von SPD, Grünen und FDP können sich jetzt nicht verstecken, sondern müssen agieren und sich zu dritt auf einen Fahrplan für den zweiten Corona-Winter verständigen."
Ob eine stärkere Präsenz von Kanzlerin Angela Merkel tatsächlich etwas brächte, weiß Kipping nicht, ein Versuch sei es aber wert. Kipping: "Offensichtlich schaffen es die Spitzen von SPD, Grünen und FDP nicht, sich auf einen konsequenten Sofortmaßnahmenplan zu verständigen, der eine Kehrtwende einleitet und zeitnah die Intensivstation entlastet. Das ist peinlich für diese drei Parteien. Ob es etwas helfen würde, wenn Angela Merkel als amtierende Kanzlerin die drei Parteispitzen der Ampel einlädt, weiß ich nicht, aber sie könnte es noch mal versuchen."
Die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Bundestag, Christine Aschenberg-Dugnus, ist nicht der Auffassung, dass Corona aus der öffentlichen Debatte verschwunden war. Gegenüber watson sagt sie: "Meines Erachtens war das Thema Corona nie weg. Es war abzusehen, dass die Zahlen im Herbst und Winter steigen würden. Leider hat Gesundheitsminister Spahn nicht vorausschauend gehandelt."
Tatsächlich befindet sich die Bundesrepublik momentan in einer Art Zwischenzeit: Nach der Bundestagswahl ist die geschäftsführende Regierung aus CDU/CSU und SPD kaum noch tätig, die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP sind noch nicht beendet und fordern viele Kapazitäten der Entscheidungsträgerinnen und -träger ein.
Aschenberg-Dugnus sagt dazu:
Markus Söder hatte am Wochenende einheitliche Regelungen gefordert und die Ampel-Koalitionäre dafür kritisiert, dass sie das Ende der epidemischen Lage eingeleitet haben. Söder forderte zudem Zusatzinstrumente wie Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte und eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen. Er meinte, mit den von SPD, FDP und Grünen geplanten Maßnahmen lasse sich die Pandemie nicht bekämpfen.
Aschenberg-Dugnus fordert von Merkel persönlich, dass sie sich um ihr Land kümmert. "Kanzlerin Merkel ist geschäftsführend im Amt. Ich erwarte von ihr, das Land auch geschäftsführend zu führen. Denn geschäftsführend ist kein Synonym für untätig."
Eine Abschiedstour sei "fein", sagte die FDP-Politikerin. "Aber in Krisenzeiten darf das Amt nicht zu kurz kommen. Sie könnte zum Beispiel zur besten Sendezeit einen erneuten Impf- und Impf-Boosteraufruf starten."
Die noch amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel macht sich bezüglich der Pandemie rar. In ihrem Videopodcast rief sie zwar die Menschen dazu auf, sich impfen zu lassen und weiterhin sämtliche möglichen Maßnahmen wie Abstandsregeln und Maskenpflichten einzuhalten. Doch abgesehen davon ist sie wenig aktiv.
Den Eindruck, dass Regierung und Kanzlerin nicht präsent genug seien, teilt die Regierung nicht. "Seit Beginn der Pandemie hat die Bundesregierung den Anspruch, die Bürgerinnen und Bürger verständlich und zuverlässig zu informieren und das Regierungshandeln transparent zu machen", sagt eine Regierungssprecherin auf Anfrage von watson.
Aus diesem Grund informierten das Bundesministerium für Gesundheit und das Robert-Koch-Institut gemeinsam. Mit zwei Kampagnen würden außerdem Informationen zu den geltenden Regeln, aber auch zur Impfung an die Bevölkerung getragen. Und das nicht nur auf Deutsch: "Informationsmaterialien sind in bis zu 22 Fremdsprachen, vor allem in englischer, arabischer, russischer und türkischer Sprache sowie in Leichter Sprache und in Gebärdensprache erhältlich", sagt die Regierungssprecherin.
Und weiter: "Die Bundeskanzlerin hat das Thema immer wieder öffentlich angesprochen." Verwiesen wird unter anderem auf den Podcast der Kanzlerin, aber auch auf Pressestatements.
Die Bundesländer handeln währenddessen eigenständig und führen nach und nach 2G-Regeln ein. So beispielsweise Berlin, Bayern und Sachsen. Auch in Mecklenburg-Vorpommern mussten die Schutzmaßnahmen mittlerweile verschärft werden, weil die Corona-Ampel des Landes die Warnstufe Orange erreicht habe. "Wir handeln selbst und warten nicht auf andere", heißt es vonseiten der Landesregierung.
Am Donnerstag werden sich die Länder zu einer Ministerpräsidentenkonferenz treffen, um sich bezüglich des weiteren Vorgehens abzusprechen.
Für die Oppositionspartei Die Linke gibt es allerdings genug Stoff zur Kritik: Auf Anfrage der watson-Redaktion sagt die Parteivorsitzende Janine Wissler:
Die Bundesregierung habe auch die bereits erprobten Maßnahmen gekannt, so Wissler weiter: "Niedrigschwellige Impfangebote, kostenlose Schnelltests, Luftfilter, Lüftungsanlagen und Verbesserungen im Gesundheitssystem, vor allem in der Pflege. Trotzdem wurde praktisch nichts unternommen, sogar in die beginnende vierte Welle hinein weiter gelockert."
Die Untätigkeit angesichts der beginnenden vierten Welle sei verantwortungslos gewesen. "Das ist ein extremes Versagen der Bundesregierung. Die Bundesregierung ist noch im Amt und hat die volle Verantwortung für ihr Tun. Und das heißt hier leider: Die Bundesregierung hat die volle Verantwortung für ihr Nichtstun. Angela Merkel muss ihre Regierung an die Arbeit schicken, um die Menschen zu schützen, auch als kommissarische Bundesregierung.“
SPD-Chefin Saskia Esken verweist auf die "Novelle des Infektionsschutzgesetzes", die die Ampel-Parteien bereits vor der Regierungsbildung ins Parlament eingebracht haben.
Allerdings erinnerte Esken auch an die Verantwortung der Länder: "Bereits jetzt stehen den Ländern umfangreiche Instrumente zur Eindämmung der Pandemie zur Verfügung. Die Schuldzuweisungen von Markus Söder in Richtung Bund und Ampel sind sachlich unangebracht, unverantwortlich ist dagegen sein Nichthandeln", teilte Esken der Deutschen Presse-Agentur mit.
Söder habe als Ministerpräsident in Bayern alle Instrumente zur Hand und hätte angesichts einer dramatischen Entwicklung der Inzidenzen "längst strenge Maßnahmen ergreifen müssen", so die SPD-Chefin. "Es ist jetzt nicht die Zeit für Nebelkerzen, es ist Zeit zu handeln."
Auch Ex-Linkenchef Dietmar Bartsch äußert sich gegenüber watson kritisch. Mit der breiten Verfügbarkeit von Impfstoffen sei die amtierende Bundesregierung über die Sommermonate "in eine Art Tiefschlaf" gefallen. Sie habe darauf gesetzt, dass die Pandemie vorüberzieht und vor allem den Wahltermin im Blick gehabt. "Ein fahrlässiger Fehler", so Bartsch. Dass andere Länder besser da stünden als Deutschland, liege nicht am Virus, "sondern an politischem Versagen". "Diese vierte Welle ist auch eine politische. Sie gehört der noch amtierenden Bundesregierung um Angela Merkel und Olaf Scholz."
Auch Jens Spahn oder Helge Braun dürften sich nicht wegducken, nur, weil sie bald in der Opposition seien, so Bartsch. "Allerdings erlebe ich das Gegenteil. Jens Spahn hatte die Pandemie schon für faktisch beendet erklärt. Die Leichtfertigkeit wird jetzt durch Rekorde bei den Infektionen quittiert. Eine der letzten Amtshandlungen muss es sein, die verbockte Booster-Kampagne jetzt auf das Gleis zu setzen, damit nicht weitere wertvolle Zeit vergeudet wird, die am Ende Menschenleben kostet"
Und selbst wenn Bartsch Kanzlerin Merkel eine große Kompetenz zuspricht – er hätte sich mehr erhofft:
Bartsch hoffe "sehr, dass die Ampel den Corona-Schlafwagen der Großen Koalition verlässt. Die ersten Signale stimmen mich nur bedingt hoffnungsvoll."
Parteikollegin Susanne Ferschl erwartet von Angela Merkel nichts mehr. Das schreibt die Linken-Abgeordnete auf Anfrage von watson. Vor allem kritisiert Ferschl, dass der Wahlkampf im Sommer über der Corona-Situation gestanden habe. "Da ging es um parteipolitische Abgrenzung und Profilierung, statt langfristige Weichenstellung und Konzepte zur tatsächlichen Bekämpfung der Pandemie."
Man gewinne den Eindruck, die vierte Welle breche über einer völlig überraschten All-Parteienkoalition – also der GroKo plus Ampel – zusammen. "Und wieder wird nur reagiert. Ich frage mich, wann denn endlich mal langfristig gedacht wird und die Weichen entsprechend gestellt werden", so Ferschl.
Von der noch amtierenden Regierung erwartet die Linken-Politikerin, "nur noch das Notwendigste". Das heißt für sie: "Zwingend notwendige Verordnungen erarbeiten und erlassen – mehr ist nicht drin."