Menschen in Afghanistan werden exekutiert – doch der internationale Aufschrei bleibt aus. Bereits im September hatte watson über mindestens sechs ermordete Menschen berichtet, die auf deutschen Evakuierungslisten standen. Das hatte der Grünen-Politiker Erik Marquardt der watson-Redaktion mitgeteilt.
Doch das Morden im Hindukusch hört nicht auf.
Im Norden Afghanistans sind vier Frauen getötet worden, darunter offenbar mindestens eine Frauenrechtsaktivistin – die 29 Jahre alte Dozentin Frozan Safi. Die in Afghanistan herrschenden Taliban bestätigten am Samstag den Fund von vier Frauenleichen in einem Haus in Masar-i-Scharif und gaben die Festnahme von zwei Männern in dem Zusammenhang bekannt.
Nach Informationen der Nachrichtenagentur AFP wollten die Frauen das Land verlassen und wurden womöglich in eine Falle gelockt. "Die Festgenommenen haben in Verhören zugegeben, dass sie die Frauen in das Haus eingeladen haben", sagte der Sprecher des Innenministeriums, Kari Sajed Chosti, in einer Videobotschaft. "Weitere Ermittlungen sind im Gange und der Fall wurde an das Gericht weitergeleitet."
Was fordern Aktivistinnen und Aktivisten von der internationalen Gemeinschaft? Das hat watson die afghanische Kommunalpolitikerin Zarifa Ghafari gefragt. Seit Sommer 2018 war Ghafari die Bürgermeisterin der Stadt Maidan Shahr. Kurz nach der Machtübernahme der Taliban im August musste die 29-Jährige fliehen. Sie lebt derzeit in Deutschland.
Tatsächlich, erklärt Ghafari gegenüber watson, seien sowohl Männer als auch Frauen von diesen Morden betroffen. "Aber es ist schrecklicher, wenn man mitbekommt, dass einer Frau durch einen Anruf Hoffnung gemacht wird, das Land verlassen zu können, sie in ein Safehouse eingeladen und dann getötet wird. Genau das geschah mit diesen vier Frauen in Mazar-i-Sharif – aber das passiert auch vielen weiteren Frauen in Afghanistan."
Einem früheren Bericht der BBC zufolge wollten diese Frauen zum Flughafen Masar-i-Scharif, um das Land zu verlassen. Aus Aktivistenkreisen erfuhr die Nachrichtenagentur AFP, dass sie einen Anruf erhielten, den sie für eine Einladung zu einem Evakuierungsflug hielten. Eine Frauenrechtsaktivistin und Mitarbeiterin einer internationalen Organisation teilte der Agentur mit, dass auch sie einen solchen Anruf bekommen habe, sie allerdings skeptisch geworden sei, und die Nummer blockiert habe.
Die Schwester der getöteten Aktivistin berichtete dem britischen Medium "The Guardian", Frozan Safi habe gegen Ende letzten Monats einen Anruf von einer anonymen Nummer erhalten, in dem sie aufgefordert worden sei, Beweise für ihre Arbeit als Aktivistin zu sammeln und in ein Safehouse zu gehen. Das habe sich für die Aktivistin nachvollziehbar angehört. Sie habe geglaubt, so erzählte es die Schwester der Getöteten, ihr Asylantrag in Deutschland sei im Gange.
Ghafari findet zur aktuellen Lage deutliche Worte:
Ghafari mache sich Sorgen um die Frauen vor Ort. "Insbesondere Frauenrechtlerinnen, Journalistinnen, Frauen, die beim Militär gearbeitet haben und die Frauen, die im Parlament gearbeitet haben." Sie selbst habe in Kontakt mit Kolleginnen gestanden, die mit ihr im Verteidigungsministerium gearbeitet haben und sagt: "Sie befinden sich in einer sehr schlechten Situation. Sie verstecken sich, suchen Hilfe. Und der einzige Weg ist, ihnen vorübergehend eine sichere Zuflucht zu bieten."
Die internationale Gemeinschaft müsse dieser Situation besondere Aufmerksamkeit schenken. Ghafari wisse, dass es nur eine kurzfristige Lösung sei, den Frauen Zuflucht zu bieten. "Es können nicht alle Frauen – das sind schließlich 50 Prozent der Bevölkerung – auswandern."
Trotzdem müsse etwas getan werden. Ghafari sagt:
Für die SPD-Politikerin und Vizepräsidentin des EU-Parlaments Katarina Barley sind die Nachrichten von der Ermordung Frozan Safis erschütternd, wie sie watson auf Anfrage mitteilt. "Der Mut afghanischer Frauenrechtlerinnen lässt sich kaum in Worte fassen. Sie haben für ein demokratisches, freiheitliches Afghanistan gearbeitet, trotz der permanenten Gefahr der Rückkehr der Taliban", sagt sie.
Jetzt, so Barley weiter, müsse man "alles daran setzten, so viele schutzbedürftige Aktivistinnen wie möglich aus dem Land zu bekommen." Und sie meint, es werde notwendig sein, auch mit den Taliban über sichere Korridore zu reden. "Die Europäische Union sollte in diesen Gesprächen die Sicherheit von Frauen zur Bedingung für die Auszahlung von Entwicklungsgeldern machen."
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der EU, David McAllister, erklärt gegenüber watson, dass bereits mit den Taliban gesprochen werde. "Die EU führt Gespräche mit den Taliban in Doha, um für humanitäre Hilfe für notleidende Menschen und die sichere Ausreise für ausländische Staatsangehörige und Afghanen, die das Land verlassen wollen, zu sorgen", sagt er.
Bei diesen Gesprächen gehe es auch um Sicherheits- und Terrorismusfragen sowie die Menschenrechtslage vor Ort, insbesondere für Frauen und Mädchen, die besonders bedenklich sei. Aber McAllister betont: "Es handelt sich ausschließlich um technische Gespräche. Es geht nicht darum, die Taliban als neue afghanische Regierung anzuerkennen."
Die Taliban nicht als Regierung anzuerkennen, ist eine der Forderungen, die die afghanische Bürgermeisterin Ghafari an die internationale Gemeinschaft stellt. Sie sagt allerdings, das Wichtigste sei, zuerst die Frauen aus dem Land zu holen, die besonders gefährdet sind.
"Und zweitens muss die EU den Druck auf die Taliban-Regierung erhöhen. Sie sind jetzt dort und sie regieren dort – zumindest vorerst. Also müssen wir sie unter Druck setzen, Menschenrechte zu akzeptieren, Frauenrechte zu akzeptieren", so Ghafari.
Die Taliban hatte kurz nach ihrer Machtübernahme eine Amnestie für jene Menschen angekündigt, die für die afghanische Regierung gearbeitet hatten. "Aber sie halten ihr Wort nicht", sagt Ghafari.
Außerdem müsse man weiter und gezielter für humanitäre Hilfe sorgen, vor allem müsse das Gesundheitssystem unterstützt werden. Doch sie warnt:
Es gebe schließlich keine Garantie, dass die Taliban etwaige Hilfsgelder nicht dafür nutzten, den Terror weiter auszubauen. "Was ich also fordere, ist, dass internationale Organisationen, die bereits früher, auch vor über 20 Jahren, humanitäre Hilfe in Afghanistan geleistet haben, wieder vor Ort aktiv werden können. Sie wissen, wie sie mit den Taliban umgehen müssen", sagt Ghafari.
Auf Anfrage von watson erinnerte McAllister daran, dass die Europäische Kommission rund eine Milliarde Euro an Hilfsgeldern bereitstellen wolle, "für die unmittelbare und zielgerichtete humanitäre Hilfe in Afghanistan und in den Nachbarländern". Ein Zusammenbruch des Landes müsse dringend verhindert werden, so der CDU-Politiker.
Trotzdem sagt er, eine Zusammenarbeit mit afghanischen Behörden könne nur erfolgen, sofern bestimmte Kriterien erfüllt würden. "Dazu gehört unter anderem der Schutz der Grundrechte aller Afghanen, einschließlich Frauen, Mädchen und Angehörigen von Minderheiten, sowie die Bekämpfung von terroristischen Organisationen."
Bei all diesen Aktivitäten sei entscheidend, dass die gesamte internationale Gemeinschaft zusammenarbeite.
Seit der Machtübernahme der Taliban in ganz Afghanistan haben viele Menschenrechtsaktivisten das Land aus Furcht vor Unterdrückung und Gewalt durch die Islamisten verlassen. Die Taliban hatten Frauen während ihrer ersten Herrschaft in Afghanistan in den 1990er Jahren weitgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt.
Vereinzelte Proteste von Frauen, etwa für die Rückkehr von Mädchen zur Schule, wurden zuletzt immer wieder aufgelöst. Die Anführer der Islamisten unterstrichen aber, dass ihre Kämpfer nicht befugt seien, Aktivisten zu töten, und drohten Strafen an.
(Mit Material von AFP)