Nach Angaben des Grünen-Politikers Erik Marquardt sind bereits mindestens sechs Menschen, die auf deutschen Evakuierungslisten stehen, in Afghanistan von den Taliban hingerichtet worden. Andere hätten Todesurteile zugestellt bekommen oder seien ausgepeitscht worden, sagte der Europaparlamentarier gegenüber watson. Das zuständige Auswärtige Amt machte watson gegenüber auch nach mehrfacher Nachfrage keine Angaben dazu. Die Namensliste und Fotografien der laut Marquardt ermordeten Menschen liegen der watson-Redaktion vor.
Marquardt hat mit der Filmemacherin Theresa Breuer und der Hilfsorganisation "Sea Watch" das Aktionsbündnis "Kabul Luftbrücke" ins Leben gerufen. Mit ihrer Aktion arbeitet die "Kabul Luftbrücke" daran, Menschen auf zivilem Weg nach Deutschland zu holen. Eigenen Angaben zufolge hat die Initiative bisher 207 Menschen mit einem gecharterten Flugzeug evakuiert. Die Rettungsaktion basiert auf Spenden der Bevölkerung. Etliche prominente Musiker, Politikerinnen, Autoren, Aktivistinnen und Schauspieler teilten den Spendenaufruf in den sozialen Medien, darunter auch Luisa Neubauer, Aktivistin der Klimaschutzorganisation Fridays for Future.
Menschen, die auf diesen Evakuierungslisten stehen, gehören zu unterschiedlichen Personengruppen. Dabei unterscheidet das Auswärtige Amt zwischen drei Gruppen:
Der grüne Europaabgeordnete Marquardt ist der Ansicht, dass das Auswärtige Amt wie auch das Bundesinnenministerium (BMI) die Evakuierung dieser Menschen weitgehend blockieren. Diesen Vorwurf weisen beide Ministerien ausdrücklich zurück. Auf watson-Nachfrage verweisen sie auf die bisherige Berichterstattung in anderen Medien.
Darin heißt es etwa auch, dass Marquardts Initiative für den Bundeswehreinsatz, der vor rund zwei Wochen beendet worden war, eher hinderlich gewesen sei, weil man Mitarbeitende von ihren Aufgaben habe abziehen müssen. Das Auswärtige Amt äußerte sich dazu auf Instagram. Der Grünen-Politiker findet solche Aussagen beschämend: "Man sagt also, drei Leute mit einem Handy können den Ausgang eines Militäreinsatzes der Bundesrepublik Deutschland beeinflussen. Das ist ziemlich peinlich."
Weiter sagte Marquardt gegenüber watson zur deutschen Evakuierungsaktion in Kabul: "Die Aktion der Bundeswehr hatte ja verschiedenste Probleme. Man hatte politisch entschieden und öffentlich verkündet, dass viele Menschen evakuiert werden sollen, man hat die Kriterien erweitert und Menschen auf Listen geschrieben." Diese Listen seien jedoch nicht ausreichend bearbeitet worden. "Und selbst wenn, wurden sie nicht zu den Toren des Flughafens, zum Beispiel zu den US-Gates, gebracht. Sodass man Menschen öffentlich Hoffnungen gemacht hat, gesagt hat: 'Ihr könnt jetzt evakuiert werden'."
Offenbar habe Deutschland seine Evakuierungslisten nicht mit anderen Staaten geteilt. Das habe dazu geführt, dass etwa US-Soldaten nicht hätten wissen können, ob jemand zur Ausreise berechtigt gewesen sei oder nicht. Zudem habe man von US-Soldaten erfahren, es habe die Ansage von Deutschland gegeben, dass der zivile Flieger der "Kabul Luftbrücke" keine Menschen transportieren soll.
Marquardt sagte:
Marquardt spielt auf das Selbstmordattentat am Flughafen von Kabul am 26. August an. Dabei starben mindestens 79 Afghaninnen und Afghanen sowie 13 US-Soldatinnen und -Soldaten. Die Taliban sprechen von insgesamt mehr als 190 Toten. Am 25. August wollte der Flieger der "Kabul Luftbrücke" Menschen evakuieren, musste aber mit nur 18 Menschen an Bord zurückfliegen. Zu all diesen Vorwürfen hatte das Auswärtige Amt sowohl am 30. August als auch am 01. September in der Regierungspressekonferenz Stellung bezogen.
Außerdem, sagte Marquardt, gebe es in der Bundesregierung keine Stelle, bei der betroffene Personen oder Hilfsorganisationen erfahren könnten, wer auf diesen Listen steht und wer welchen Status hat. "Man wird immer von A nach B geschickt, von B nach C und von C wieder nach A", sagte der Grünen-Politiker. "Man findet nicht heraus: Wer soll jetzt eigentlich aus Sicht der Bundesregierung evakuiert werden? Und selbst wenn man es herausfinden würde, werden keine Visa für die Leute ausgestellt."
watson hat das Bundesinnenministerium mit Marquardts Vorwürfen konfrontiert. Die Antwort:
Das Auswärtige Amt hingegen teilte mit, dass je nach Personengruppe unterschieden werde, welches Ministerium zuständig sei.
Aus Marquardts Sicht gäbe es eine einfache Lösung für eine schnellere Rettung von Menschen: "Wenn man jetzt endlich entscheiden würde: 'Diese Personengruppe bekommt ein Visum', dann könnte man sich auch um die Evakuierung kümmern", sagte Marquardt weiter. Die Initiative "Kabul Luftbrücke" sei logistisch vor Ort gut aufgestellt, arbeite auch international mit vielen Staaten und Akteuren vor Ort zusammen, etwa mit Usbekistan und Tadschikistan, und könne mit den Taliban gut verhandeln.
Marquardt sagte:
Der Europaabgeordnete hat die Vermutung, dass die Bundesregierung absichtlich so langsam arbeitet. "Es scheint so zu sein, dass man die Evakuierung bis nach der Bundestagswahl verschleppen will. Das kostet aber eben Menschenleben – und zwar sehr viele."