Wer in diesen letzten Tagen vor der Bundestagswahl mit SPD-Politikern spricht, der bekommt so viel Zuversicht zu hören wie seit Jahren nicht mehr. Zum ersten Mal seit Anfang der 2000er-Jahre sind die Sozialdemokraten in allen Bundestagswahl-Umfragen der größten Institute an erster Stelle, vor CDU/CSU und den Grünen. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat deutlich bessere Beliebtheitswerte als sein Unionskonkurrent Armin Laschet und Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock.
Hat die Parteispitze Angst, dass die Union sie doch noch einholt? Warum hat die SPD trotz ihres Höhenflugs in den Umfragen so schlechte Zustimmungswerte bei jungen Menschen? Und woran würden junge Menschen überhaupt merken, dass Olaf Scholz Kanzler geworden ist?
watson hat darüber kurz vor der Wahl mit Lars Klingbeil gesprochen, dem Generalsekretär der SPD – und damit zuständig für die Organisation der Sozialdemokraten.
"Jemand, der dünnhäutig ist und in Kinder-Interviews Kinder anpampt, darf nicht Kanzler werden."
watson: Herr Klingbeil. Haben Sie den Champagner für Sonntagabend schon kaltgestellt?
Lars Klingbeil: Wir haben noch überhaupt nichts kaltgestellt. Wir konzentrieren uns jetzt auf die letzten, entscheidenden Tage vor dem Wahlabend. Viele Menschen werden sich jetzt erst entscheiden und dann ihre Stimme abgeben. Deswegen geben wir als SPD richtig Gas, um die Menschen bis zuletzt zu überzeugen, Olaf Scholz ins Kanzleramt zu wählen.
Wie sehr macht Ihnen Angst, dass CDU und CSU in den jüngsten Umfragen ein paar Prozentpunkte gut gemacht haben?
Die Werte der SPD sind seit Wochen sehr konstant. Wir freuen uns über den großen Zuspruch. Wir sind mit Vorsprung auf Platz eins und wollen jetzt auch als Erste durchs Ziel gehen. Dann haben wir klar den Regierungsauftrag.
Woher wissen Sie, dass die Menschen den Regierungsauftrag für die SPD wollen?
Eine deutliche Mehrheit der Menschen möchte, dass Olaf Scholz Kanzler wird. Und eine deutliche Mehrheit möchte, dass Armin Laschet eben nicht Kanzler wird. Das ist das Duell: Olaf Scholz gegen Armin Laschet. Auf der einen Seite ist da jemand, der Kompetenz und Erfahrung hat, der seriös ist und seriös bleibt, auch in schwierigen Situationen.
Und Armin Laschet sprechen Sie das ab?
Auf der anderen Seite haben wir mit Armin Laschet jemanden, der seit Wochen wild um sich schlägt, der jetzt gerade wieder die Medien angreift, weil er mit den TV-Triellen nicht zufrieden ist. Jemand, der dünnhäutig ist und in Kinder-Interviews Kinder anpampt. So jemand darf nicht Kanzler werden. Wie soll das denn werden, wenn der Mann mit Putin oder Erdoğan verhandelt? Die Menschen haben jetzt die Wahl.
Parteimanager: Lars Klingbeil vor einem der Plakatmotive im SPD-Wahlkampf. bild imago images/Stefan Zeitz
"Ich sage: CDU und CSU haben Anstand und Würde verloren. Sie brauchen eine Regenerationspause auf der Oppositionsbank."
Man hat den Eindruck, dass Union und SPD in diesen Wochen so hart miteinander umgehen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Das hat man auch gesehen, als Sie und CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak vergangene Woche in der Talkshow bei "Markus Lanz" zu Gast waren. Andererseits duzen Sie beide einander und haben nach eigenen Angaben ein Vertrauensverhältnis. Wie viel Wahlkampf verträgt dieses Vertrauensverhältnis denn noch?
Es geht ja um die Zukunft des Landes und die Frage, was man durchsetzt und wie man Politik gestalten kann. Jeder kämpft jetzt für sich. Wir haben eine historische Chance, nach 16 Jahren Merkel eine Regierung ohne die Union zu erreichen. Dafür brennen ganz viele Leute und sind mit Leidenschaft unterwegs. Die Konservativen haben sich massiv verändert: Der ehemalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen, der ganz rechts außen steht, kandidiert für die CDU, in der Corona-Pandemie haben zahlreiche Unionsabgeordnete mit Maskendeals in die eigene Tasche gewirtschaftet, die Union stand jahrelang bei sozialen Verbesserungen und Klimaschutz auf der Bremse, jetzt führt sie einen Schmutz-Wahlkampf, weil sie keine Ideen für die Zukunft hat.
Könnten Sie nach dieser harten Auseinandersetzung überhaupt noch mit CDU und CSU koalieren? Vielleicht sind Sie ja nach der Wahl doch wieder darauf angewiesen.
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus hat am Montag bei "hart aber fair" auf die Frage, was das Wichtigste für die nächste Regierung ist, gesagt: "Die Menschen einfach mal machen lassen." Die nächste Bundesregierung kann aber nicht einfach machen lassen, sondern muss richtig anpacken. Wir brauchen jetzt eine enorme Energie in der Klimaschutzpolitik, wir müssen den Staat modernisieren, wir müssen im Kampf gegen Rechts zulegen. Und wenn ich mir dann noch angucke, mit welchen Unwahrheiten und mit welchem Schmutz die Union gerade um sich wirft, dann fehlt mir die Fantasie, wie wir mit diesen Parteien gemeinsam das Land regieren sollen.
Sie schließen eine weitere große Koalition aber nicht aus.
Ich sage: CDU und CSU haben Anstand und Würde verloren. Sie brauchen eine Regenerationspause auf der Oppositionsbank.
Mal angenommen, es klappt so, wie Sie sich das wünschen: Die SPD gewinnt die Wahl tatsächlich. Und ein paar Wochen später wählt eine Mehrheit der Bundestagsabgeordneten Olaf Scholz zum Bundeskanzler. Woran wird ein junger Mensch danach merken, dass die Ära Merkel zu Ende ist und die Ära Scholz begonnen hat?
Es ist ein großer Umbruch, der nach 16 Jahren Merkel ansteht. Das wichtigste Thema für die nächste Legislatur ist der Klimaschutz. Dabei den Turbo einzulegen ist entscheidend für alles, was in den nächsten Jahren folgt. Wir müssen die erneuerbaren Energien ausbauen: Windkraft, Solar, Stromleitungen, Elektromobilität. Wir können damit Vorbild sein für die ganze Welt. Das wird mit Olaf Scholz im Kanzleramt kommen. Er wird den Klimaschutz zur Chef-Sache machen.
bild: imago images/stefan zeitz
"Es wird mit Olaf Scholz einen Aufbruch im Klimaschutz und bei der Digitalisierung geben, das wird man spüren."
Aber woran wird das ein junger Mensch konkret merken?
Wir kommen weg von einem Verwalten, das man mit Kanzlerin Merkel verbindet. Ich will gar nichts Schlechtes über die Kanzlerin sagen. Ich schätze sie sehr, sie hat große Verdienste um das Land. Aber sie hat eben vieles auch ausgesessen. Und sie hat zugelassen, dass Unionsminister wie Altmaier und Scheuer nichts bis gar nichts gemacht haben. Es wird mit Olaf Scholz einen Aufbruch im Klimaschutz und bei der Digitalisierung geben, das wird man spüren.
Sie haben mir immer noch keine konkrete Veränderung genannt.
Ich habe den Ausbau der Erneuerbaren genannt. Olaf Scholz hat für das erste Jahr seiner Amtszeit einen verbindlichen Ausbauplan für erneuerbare Energien versprochen. Das heißt dann auch, dass ein neues Windrad in wenigen Monaten gebaut wird, nicht in mehreren Jahren. Da muss Tempo rein und das wird Olaf Scholz anpacken.
Viele junge Menschen werfen der SPD und Olaf Scholz vor, den Klimaschutz nicht ernst genug zu nehmen. Ein Argument der Kritiker: Olaf Scholz spricht sich nicht klar dafür aus, vor 2038 aus der Stromerzeugung aus Kohle auszusteigen.
Olaf Scholz hat schon in seiner Antrittsrede als Kanzlerkandidat vor über einem Jahr deutlich gemacht, dass Klimaschutz für ihn das wichtigste Projekt ist. Er hat gerade beim Klimaschutzpaket noch einmal ordentlich nachgeschärft. Und er hat immer klargemacht, dass entscheidend ist, was die nächsten fünf bis zehn Jahre passiert. Dann können wir am Ende auch schneller werden. Darum geht es doch. Es geht nicht um die Frage: Kohleausstieg 2038 Ja oder Nein? Die Frage ist: Was schaffen wir in den nächsten Jahren? Wie ambitioniert gehen wir da voran? Wenn wir aus dem Klimaschutz ein großes Innovationsprojekt machen, wenn hier in Deutschland die nötigen neuen Technologien entstehen, dann entwickeln wir hier Ideen, die auch in anderen Ländern helfen können, den Klimaschutz international voranzutreiben.
Viele junge Menschen kaufen Ihnen Ihre Klimaschutzpläne aber nicht ab. Laut einer YouGov-Umfrage würden nur elf Prozent der 18- bis 29-Jährigen SPD wählen, 33 Prozent die Grünen. Warum tun Sie sich so schwer bei jungen Menschen?
Ich sehe andere Umfragen, die zeigen, dass Olaf Scholz in allen Altersgruppen der beliebteste Kanzlerkandidat ist. Das heißt, dass er derjenige ist, der Generationen zusammenbringen kann.
"Armin Laschet hat vor jedem Interview von Markus Söder Angst. So etwas gibt es bei der SPD nicht mehr."
Aber die Menschen wählen in Deutschland keinen Kanzler, sondern eine Partei.
Es geht vor allem um die eine Frage: Wer folgt auf Merkel im Kanzleramt? Wer eine Regierung ohne die kaputte Union möchte und will, dass Olaf Scholz Kanzler wird, muss das Kreuz bei der SPD machen. Die Grünen werden natürlich sehr stark mit Klimaschutz verbunden. Aber die Ambition, dass sich da wirklich etwas ändern muss, hat auch Olaf Scholz. Wer die SPD wählt, kann sich darauf verlassen: Beim Klima wird in den nächsten Jahren der Turbo eingelegt. Und es ist ja deutlich geworden in den letzten Tagen, dass wir das gerne gemeinsam mit den Grünen angehen wollen.
Junge Menschen in Ihrer Partei waren lange Zeit unzufrieden mit dem Kurs der SPD. Im Sommer 2020 haben manche aus der SPD-Jugendorganisation Jusos noch auf Twitter unter dem Hashtag #NOlaf gegen Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten Stimmung gemacht. Jetzt scheinen die Jusos kreuzbrav hinter Scholz zu stehen. Aber die Konflikte sind ja weiter da: Viele Jusos wollen nach der Wahl eine rot-rot-grüne Koalition, Olaf Scholz lässt erkennen, dass er das eher nicht will. Wie wollen Sie vermeiden, dass die SPD nach der Wahl wieder im Streit versinkt?
Wir sind als Partei geschlossen. Das ist keine Floskel, wir haben gelernt aus der Vergangenheit. Wir haben gemeinsam ein Programm für die Zukunft des Landes entwickelt. Wir machen uns gemeinsam auf, um Dinge in diesem Land zu gestalten. Wir haben 109 Bundestagskandidaten unter 40 Jahren, die für die SPD und Olaf Scholz antreten. Das ist eine junge Truppe, die Verantwortung für das Land übernehmen will.
Geschlossenheit vor der Wahl ist relativ einfach, wenn die Umfragewerte gut sind.
Die Geschlossenheit wird es auch nach der Bundestagswahl geben. Wir wollen den Klimaschutz voranbringen. Wir wollen den Zusammenhalt im Land stärken. Uns geht es um 12 Euro Mindestlohn, um die Frage, wie Kinderarmut bekämpft wird. Dafür kämpfen wir als Partei mit unseren 400.000 Mitgliedern. Mir war wichtig, dass wir nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen.
Welche Fehler meinen Sie?
Früher hatten wir erst das Programm, dann kam der Kandidat, da war der Streit schon vorprogrammiert. Heute sind die anderen Parteien ganz neidisch auf unseren Zusammenhalt. Armin Laschet hat vor jedem Interview von Markus Söder Angst. So etwas gibt es bei der SPD nicht mehr.
"Ich habe große Sympathie für Rot-Grün."
Manche jungen Menschen mögen Olaf Scholz wegen seiner Vergangenheit nicht. Ich nenne mal ein paar Stichworte: der Brechmitteleinsatz im Kampf gegen Drogendealer Anfang der 2000er Jahre in Hamburg, seine Leugnung von Polizeigewalt nach dem G20-Gipfel 2017, die Unklarheiten um die Cum-Ex- und die Wirecard-Affäre. Was entgegnen Sie?
Jede und jeder muss sich bewusst machen, dass das eine historische Wahl ist. Auch diejenigen, die Olaf Scholz oder die SPD kritisch sehen. Das Spielfeld wird nach 16 Jahren Angela Merkel neu aufgestellt. Und es gibt die Chance, eine progressive Regierung ohne Union hinzubekommen, mit Olaf Scholz an der Spitze. Eine Regierung, die beim Klimaschutz richtig viel erreichen wird, die bei Digitalisierung vorankommt, die gegen Rechts, gegen Spaltung und Hetze kämpft. All das wird es mit Armin Laschet als Kanzler nicht geben. Wer Laschet als Kanzler verhindern will, muss das Kreuz bei der SPD machen.
Die Linkspartei liegt in den Umfragen momentan bei sechs Prozent. Würden Sie sich wünschen, dass sie ihr noch ein, zwei Prozentpunkte wegnehmen, damit es vielleicht für Rot-Grün reicht?
Ich habe große Sympathie für Rot-Grün. Ich bin politisch groß geworden in der Zeit um die Wahl 1998, als Rot-Grün nach 16 Jahren Helmut Kohl als Kanzler abgelöst hat. Jetzt kämpfe ich selbst für eine starke SPD, dafür, dass wir am Ende vor der Union liegen und auch den Regierungsauftrag bekommen. Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen, es kommt auf jede Stimme an.
Es ist zumindest relativ wahrscheinlich, dass Sie am Ende mit der FDP regieren werden. Die FDP hat schon öffentlich gemacht, was ihre roten Linien für eine Koalition sind, worauf sie also nicht verzichten will: keine Steuererhöhungen, keine Aufweichung der Schuldenbremse. Was sind eigentlich die roten Linien der SPD für eine Koalition?
Wir haben deutlich gemacht, dass wir eine stabile Regierung wollen, die für Verlässlichkeit steht, gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik. Aber eben auch eine Regierung, die in ihrem ersten Jahr 12 Euro Mindestlohn durchsetzt, damit 10 Millionen Menschen mehr Geld in der Tasche haben.
Ihre Ansage an die FDP ist also: Eine Regierung mit uns gibt es nur mit 12 Euro Mindestlohn.
Ich sage Ihnen, was wir im ersten Jahr mit einem Kanzler Olaf Scholz durchsetzen wollen.
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