Gut acht Wochen nach der Bundestagswahl wollen SPD, Grüne und FDP ihren Koalitionsvertrag fertigstellen – das zumindest verkünden die Generalsekretäre Lars Klingbeil (SPD), Volker Wissing (FDP) und Bundesgeschäftsführer Michael Kellner (Grüne) auf einer Pressekonferenz am 16. November.
Bis zu diesem Tag hatten die Verhandlungsteams der Ampelparteien in 22 Arbeitsgruppen die Positionen, Ziele und Leitplanken der Regierung in spe ausgearbeitet.
Den finalen Schliff werden die Hauptverhandler an das Papier bringen, offene Punkte klären, Kompromisse finden. Noch immer ist der Plan, in der Nikolauswoche – also um den 6. Dezember – den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz zum Kanzler zu wählen und die geschäftsführende Regierung unter Angela Merkel abzulösen.
Aber wie blicken Nachwuchspolitiker der drei Ampelparteien auf die Verhandlungen? Welche Erwartungen haben junge Vertreter von SPD, Grünen und FDP an die nächste Bundesregierung?
Watson hat sich mit den führenden Köpfen der drei Jugendorganisationen der Ampel-Parteien getroffen. Im Interview sprechen Philipp Türmer (stellvertretender Vorsitzender der Jungsozialisten – Jusos), Timon Dzienus (Bundessprecher der Grüne Jugend – GJ) und Nemir Ali (stellvertretender Bundeschef der Jungen Liberalen – Julis) über rote Linien, Hoffnung und eine gestärkte junge Generation.
watson: Jusos, Grüne Jugend, Julis – zwei Jugendorganisationen, die eher links im politischen Spektrum einzuordnen sind, eine ist liberal-bürgerlich. Ebenso die entsprechenden Mutterparteien, die aktuell über einen Koalitionsvertrag verhandeln – kommt man trotz dieser Differenzen zusammen?
Nemir Ali (Julis): Was uns eint ist, dass der Status quo, so wie wir ihn jetzt haben, einfach nicht mehr weitergeht. Das ist jetzt nicht neu, aber trotzdem wahr. In den vergangenen Jahren sind wichtige Modernisierungen verschleppt worden. Beim Kampf gegen die Klimakrise sind wir zu langsam. Beim Tempo der Digitalisierung sind wir zu langsam. Wirtschaftliche Reformen, Steuerentlastungen – auch da kommen wir nicht weiter. Unsere Parteien haben zum Teil gemeinsame Vorstellungen, wo es hingehen soll. Bei der Wahl der Mittel müssen wir diskutieren.
In den Verhandlungsteams wurde hart diskutiert – das zumindest ist nach außen gedrungen. Allerdings verkörpert auch Olaf Scholz, der aktuelle Vize-Kanzler, diesen Status quo, von dem du sprichst. Die SPD ist Teil der geschäftsführenden Regierung.
Philipp Türmer (Jusos): Ich glaube, wir alle wissen, dass die letzte Große Koalition keine Liebesheirat war. Gerade wir als Jusos haben immer sehr deutlich gemacht, dass wir uns progressive Bündnisse wünschen. Wir haben deutlich gemacht, dass wir uns ein Aufbruchssignal für unsere Generation und das ganze Land wünschen. Und um ehrlich zu bleiben: Mit den Ergebnissen der Bundestagswahl waren die Optionen für ein Bündnis ohne die Konservativen beschränkt. Und deshalb denke ich, können wir zufrieden sein, dass es diese Konstellation versucht. Ohne die Union.
Eine Wunsch-Koalition wäre Rot-Rot-Grün gewesen.
Türmer (Jusos): Für Nemir. Für uns wäre es Rot-Grün gewesen.
Ali (Julis): (lacht) Bloß nicht regieren.
Türmer (Jusos): (lacht ebenfalls) Das kennen wir ja von euch.
Arrangiert ihr euch jetzt trotzdem untereinander? Ist auch die Grüne Jugend happy, mit der FDP zusammenzuarbeiten, Timon?
Timon Dzienus (GJ): Wir machen keinen Hehl daraus, dass wir uns andere Mehrheiten gewünscht hätten. Die waren jetzt leider nicht möglich. Und jetzt versuchen wir, uns als Jugendorganisation mit unterschiedlichen Rollen bei den Koalitionsverhandlungen einzubringen: sei es mit öffentlichem Druck oder durch das direkte Mitverhandeln. Um Einfluss darauf zu nehmen, dass das Aufbruchssignal auch wirklich kommt. Eine Ampel, die weiter Groko-Politik macht, bringt uns gar nichts.
Sondern?
Dzienus (GJ): Wir wollen, dass die Menschen spüren, dass sich etwas verbessert. Dass sich auch etwas für das Klima verbessert. Und dafür muss die Ampel an vielen Stellen noch liefern. Beim Sondierungspapier gab es noch viele Baustellen, mal schauen, was am Ende im Koalitionsvertrag steht.
Gerade, was das Thema Klima angeht, haben FDP und Grüne unterschiedliche Herangehensweisen, um das Problem zu lösen. Eine der roten Linien der Grünen ist der Klimaschutz, das 1,5-Grad-Ziel.
Türmer (Jusos): Diesem Ziel hat sich die Bundesrepublik verpflichtet.
Ali (Julis): Das steht auch im Wahlprogramm der FDP.
Trotzdem sind die harten roten Linien der drei Parteien: keine Steuererhöhungen, mehr soziale Gerechtigkeit, schnellerer Klimaschutz. Ein riesiges Spannungsfeld.
Ali (Julis): Nicht unbedingt, würde ich sagen. Denn man kann ja auch mehr für soziale Gerechtigkeit tun, indem man das Geld sinnvoller ausgibt. Als konkretes Beispiel: Im Sondierungspapier steht, dass ein Bürgergeld geschaffen werden soll, um Hartz IV abzulösen. Nun haben wir zum Teil unterschiedliche Vorstellungen, in welche Richtung das geht, aber wir sind uns einig, dass dieser bürokratische Irrsinn ein Ende haben muss.
Türmer (Jusos): Ich würde das Spannungsfeld um die Schuldenbremse erweitern. Auch wir hätten uns andere Mehrheiten gewünscht. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Finanzierung, sondern darum, die wachsende Ungleichheit zu bekämpfen. Wir hätten uns höhere Steuern gewünscht, dazu wird es nicht kommen.
Aber?
Türmer (Jusos): Man kann durch die Sozialleistungen eine positive Umverteilung erreichen. Ich denke, eigentlich weiß aber auch die FDP, dass es am Ende nicht ohne eine Ausgabensteigerung funktionieren wird. Da gibt es Strategien, wie man das trotz der Schuldenbremse erreichen kann: beispielsweise der Transformationsfonds. Damit könnte die Transformation in der Industrie und im Verkehr gestaltet werden. Und mein Eindruck, oder zumindest meine Hoffnung ist, dass es dahingehend auch Bewegung in der FDP gibt.
Ali (Julis): Ich darf kurz einhaken. Man muss natürlich darauf achten, dass ein solcher Transformationsfonds kein Instrument wird, um die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse zu umgehen. Wir sind uns einig darin, dass wir mehr Investitionen brauchen. Die Frage, die ich mir aber stelle: Müssen das immer gleich öffentliche Investitionen sein? Wenn die Klimakrise zum Beispiel von Privaten verursacht wurde, warum sollen dann nicht die, die die Krise verursacht haben, diese mit ihrem eigenen Kapital bekämpfen?
Türmer (Jusos): Wobei auch euch bei den Julis bestimmt bewusst ist, dass nichts so stark private Investitionen stimuliert wie öffentliche Investitionen.
Dzienus (GJ): Vielleicht braucht man am Ende beides. Aber private Investitionen schließen öffentliche ja nicht aus. Wir hätten uns auch gewünscht, mit dem Dogma der schwarzen Null zu brechen. Nichts schadet unserer Zukunft mehr, als beispielsweise am Klimaschutz zu sparen. Und wenn man sich jetzt noch anschaut, wie Vermögen verteilt ist – also, dass die oberen zehn Prozent mehr als die Hälfte des Gesamtkapitals besitzen – werden damit die demokratischen Grundprinzipien ja grundsätzlich infrage gestellt. Ich finde es problematisch, dass das jetzt nicht angegangen werden kann.
Wir sehen, neben all der Einigkeit gibt es auch Differenzen: Wann würdet ihr die Koalition platzen lassen?
Dzienus (GJ): Wir erwarten von dieser Koalition, dass sich für Mensch und Klima spürbar etwas verbessert. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind riesig. Deutschland muss sich auf den 1,5 Grad-Weg machen, da gibt es viele Prozesse, die man anstoßen muss. Aber wir erwarten auch in anderen Punkten eine Abkehr von der bisherigen Politik: eine Abkehr von der Abschottungspolitik, die Menschen auf dem Mittelmeer sterben lässt, eine Abkehr vom System Hartz IV, statt nur den Namen zu ändern. Nur, wenn sich wirklich was verändert, werden wir einem Koalitionsvertrag zustimmen.
Türmer (Jusos): Wesentlich ist, dass wir am Ende einen Vertrag haben, der uns als Land zukunftsfähig macht. Wir wollen schnelleren Klimaschutz. Wir wollen, dass ein sozialer und ökonomischer Aufstieg möglich wird, dass unsere Generation gegen Lebensrisiken effektiv abgesichert ist. Und wir wollen gleiche Lebenschancen, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Wir werden das Gesamtangebot bewerten.
Das heißt, es gibt nicht die eine rote Linie, sondern es geht euch mehr um das Gesamtkonstrukt.
Ali (Julis): Unsere roten Linien hat Christian Lindner formuliert und sie sind im Sondierungspapier festgeschrieben. Ich halte es für richtig, dass man solche Leitplanken hat. Letztlich ist der 1,5-Grad-Pfad ja auch völlig zu Recht eine rote Linie der Grünen.
Was ist euch wichtig?
Ali (Julis): Uns Julis ist es wichtig, Aufstiegschancen zu schaffen – gerade für junge Menschen, die sehr unter der Corona-Politik gelitten haben. Wir wollen mehr in Bildung investieren. Und uns ist es wichtig, die Wirtschaft zu entlasten: Das betrifft sowohl den Bereich Steuern als auch die Bürokratie. Der dritte Punkt ist der Bereich Digitalisierung, wo wir in Deutschland hoffnungslos hinterherhinken und wirklich jetzt schnell was tun müssen, wenn wir nicht abgehängt werden wollen. Und ein vierter Punkt: Es ist jetzt das erste Mal seit 16 Jahren eine Regierung ohne die Union. Das bietet die historische Chance, jetzt die Politik so zu modernisieren, wie die Gesellschaft ist.
Es wird immer wieder von einer "Fortschrittskoalition" gesprochen. Was sind denn eure Hoffnungen für das Land?
Dzienus (GJ): Ich hadere mit diesem Begriff. Ich habe Angst, dass diese Koalition nur das Nötigste machen wird. Darüber bin ich schon froh, aber ein richtiger Aufbruch ist das nicht. Zumindest hat das Sondierungspapier hier noch sehr viel Spielraum gelassen.
Türmer (Jusos): Fortschritt sagt erst einmal sehr wenig darüber aus, in welche Richtung man denn geht. Ich glaube aber, was diese Koalition kann, ist einen Handlungswillen in der Politik auszustrahlen.
Ali (Julis): Man kann es ganz einfach zusammenfassen: Die Politik braucht wieder Visionen und die Ambitionen, sie umzusetzen.
Die Corona-Ansteckungszahlen gehen gerade wieder durch die Decke. Wie bewertet ihr die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz vom vergangenen Donnerstag?
Dzienus (GJ): Ehrlich gesagt bin ich über die Untätigkeit der noch amtierenden Regierung in den letzten Wochen fassungslos und wütend. Virologinnen und Virologen haben die dramatische Situation genauso vorhergesagt und man hat nicht gehandelt. Die Beschlüsse waren daher lange überfällig. Wir begrüßen hier sowohl die Impfpflicht für einzelne Berufsgruppen als auch die Ausweitung der 2G-Regel – das muss jetzt schnell umgesetzt werden. Die starke Fokussierung auf die Hospitalisierungsrate birgt aber auch Gefahren, weil dieser Wert circa 10 Tage hinter den Infektionen hinkt. Der weitere Verlauf der Pandemie und die Wirkungen der beschlossenen Maßnahmen müssen daher zeitnah überprüft und im Zweifel nachgeschärft werden. Wir müssen durch Schutzmaßnahmen, impfen und testen jetzt alles dafür tun, die Pandemie wieder unter Kontrolle zu bringen!
Ali (Julis): Ich hoffe, dass die Impfkampagne einschließlich der Booster-Impfungen nun endlich wieder Tempo aufnimmt. Seit Monaten wird über niedrigschwellige Impfangebote gesprochen, umgesetzt wurde leider viel zu wenig. Während die Menschen in Spanien per SMS einen Impftermin erhielten, verzichtete Deutschland bei den Booster-Impfungen bisher auf jegliche direkte Ansprache, selbst von Risikogruppen. Es ist gut, dass Bund und Länder dies jetzt ändern wollen.
Türmer (Jusos): Die Kombination aus einerseits der Ausweitung der Impfangebote und andererseits der Möglichkeit, gezielt Einschränkungen nach dem 2G beziehungsweise 2G-Plus Prinzip vorzunehmen, ist grundsätzlich sinnvoll. Dadurch werden die belohnt, die sich solidarisch zeigen und sich impfen lassen. Und gleichzeitig werden die Barrieren gesenkt, dies zu tun. Jetzt kommt es darauf an, dass die Länder auch die entsprechenden Maßnahmen effektiv durchsetzen und kontrollieren, um das Infektionsgeschehen möglichst schnell einzudämmen.
Ihr seid alle Vertreter von Jugendorganisationen der Parteien, die entweder besonders oft von den jungen Wählern gewählt wurden oder besonders viele junge Abgeordnete in der Fraktion sitzen haben. Wie wollt ihr euch für junge Leute einsetzen, die gerade in den vergangenen anderthalb Jahren wegen Corona besonders hinten runtergefallen sind?
Ali (Julis): Mit dem Wahlalter ab 16 Jahren, damit junge Menschen mehr politische Teilhabe genießen können. Eine Fokussierung auf die Bildungspolitik und damit auch eine bessere Finanzierung und die Verbesserung der psychischen Versorgung.
Dzienus (GJ): Das sind alles gute Projekte, aber ich habe einen anderen Schwerpunkt. Ich glaube, dass die zentrale Zukunftsfrage für junge Menschen der Klimaschutz ist. Und wir müssen jungen Menschen eine Perspektive bieten. Dass sie auch auf dem Land die Ausbildung machen können, die sie gerne machen möchten. Oder auch, dass sie ihre Wohnung in der Stadt bezahlen können.
Türmer (Jusos): Vieles wurde jetzt schon gesagt. Ich möchte vor allen Dingen im Bereich Ausbildung noch mal aufgreifen, denn Bildung ist eben nicht nur Hochschulbildung. Und bei dieser Ausbildungsfrage, da ist eben diese Ausbildungsplatzgarantie ein Schritt. Aber insgesamt darf es uns nicht reichen, immer nur zu betonen, wie wichtig wir die betriebliche Ausbildung finden in Deutschland, sondern es muss sich eben auch in einer gesellschaftlichen Aufwertung zeigen.
Zum Beispiel durch eine bessere Bezahlung.
Türmer (Jusos): Genau. Unser klarer Wunsch ist, dass die Mindestausbildungsvergütung steigt. Wir wollen Azubi-Wohnheime. Dafür kann der Bund finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Auch Azubi-Tickets müssen weiter verbreitet werden. Und dann gibt es eben noch die Leckerlis wie die Legalisierung von Cannabis. Auch wenn wir uns alle einig sein dürften, dass das dann keine Transformation der Gesellschaft darstellt.
Der erste Gesetzentwurf der Ampel-Parteien wurde jetzt abgestimmt: Es ging um eine Änderung im Infektionsschutzgesetz. Wie beobachtet ihr das aktuelle Geschehen?
Ali (Julis): Es darf nicht wieder passieren, dass die junge Generation vergessen wird. Es müssen Wege gefunden werden, wie die Pandemie bekämpft werden kann, ohne das Leben von jungen Menschen auf den Kopf zu stellen. Insbesondere pauschale Schließungen von Kitas, Schulen und Universitäten darf es nicht mehr geben.
Türmer (Jusos): Bisherige Fehler dürfen nicht wiederholt werden. Viele junge Menschen haben sich impfen lassen und die sollten jetzt auch dafür belohnt werden. Und jetzt wird ein Schritt gegangen, der auch vorher schon möglich war, nämlich, dass man sich vermehrt auf 2G-Regelungen fokussiert.
Dzienus (GJ): Ich finde es crazy, dass vor wenigen Wochen noch über einen Freedom-Day fabuliert wurde und jetzt sind wir meilenweit davon entfernt. Die Impfquote ist zu niedrig und Unterschiede gravierend: Bremen fast 80 Prozent, Sachsen gerade mal knapp 60 Prozent. Die Gründe sind komplex, aber wir müssen uns überlegen, wie wir den Impfstoff an die Leute bringen. In der ganzen Kommunikation wurde bisher viel verbockt. 2G ist notwendig, wird aber am Ende nicht reichen.
Ein Freedom-Day ist mittlerweile ja trotzdem in Aussicht gestellt: der 20. März 2022.
Dzienus (GJ): Ich glaube weder, dass das sinnvoll noch möglich ist, oder man zum jetzigen Zeitpunkt dazu eine sichere Prognose abgeben kann. Alle jetzt beschlossenen Maßnahmen gelten mindestens bis dahin. Maßnahmen können dann nur Aufgehoben werden, wenn die Pandemie bis dahin wieder unter Kontrolle ist. Das hängt sehr damit zusammen, wie wir jetzt durch den Winter kommen. Wenn wir die Impfquote jetzt steigern, kann man da irgendwann drüber nachdenken – davon sind wir aber noch meilenweit entfernt.
Oder die Genesenen-Quote. In der vergangenen Woche kam heraus, dass sich die Parteien möglicherweise auf eine Impfpflicht für gewisse Berufsgruppen geeinigt hätten – die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt hatte das in einer Pressekonferenz gesagt – dann musste sie zurückrudern, weil FDP und SPD das nicht so einstimmig sahen. Bisher wurde von der Koalition in spe viel Eintracht nach außen getragen, fängt das Konstrukt langsam an zu wackeln?
Dzienus (GJ): Ich hoffe sogar, sie kommen ins Wackeln. Es ist eine Koalition der Kompromisse und die müssen auch an vielen Stellen gemacht werden. Und es ist die Aufgabe von uns Jugendorganisationen, klarzumachen, dass wir eben nicht alle Kompromisse immer mittragen. In der Groko war die SPD zum Beispiel oft am Rudern und dann wurden viele Sachen von der CSU abgeräumt. Ich glaube nicht, dass wir uns daran ein Beispiel nehmen sollten.
Türmer (Jusos): Einigkeit ist kein Selbstzweck und es ist der Zweck einer Koalition, dass sie eben die viel beschworenen Zukunftsfragen angehen kann. Der Koalitionsvertrag ist dafür da, einen Rahmen abzustecken. Und wenn der Streit im Vorfeld ein konstruktiver ist, glaube ich, müssen wir uns keine Sorgen machen.
Ali (Julis): Das Entscheidende ist der Stil, dass man sich konstruktiv streitet. Und wenn man sich dann aber auf eine Sache geeinigt hat, dann auch daran festhalten, nicht später dann den Streit noch einmal anfangen.
Ein Streitpunkt, der ja sicherlich auch noch ausstehen wird, ist die Verteilung der Ministerposten. Welches Ministeramt hättet ihr gerne von eurer Partei besetzt?
Ali (Julis): Am wichtigsten sind Inhalte. Das, was im Koalitionsvertrag steht, zählt. Und dann ist es natürlich auch so, dass wir Liberalen ein großes Interesse daran haben, in der Finanzpolitik zum einen zu schauen, dass wir die Spielräume, die wir für Investitionen brauchen, schaffen können. Aber auch, dass wir Spielräume für Entlastungen kleiner und mittlerer Einkommen schaffen. Daher ist der Finanzministerposten sehr interessant.
Türmer (Jusos): Zunächst kommt es natürlich eh erstmal auf den Zuschnitt an, der ja jetzt noch nicht festgelegt ist. Außerdem sind dann auch die Kompetenzen entscheidend. Und uns ist natürlich auch wichtig, dass das Kabinett paritätisch und divers besetzt ist. Aber zuerst kommt es auf die Inhalte an, die im Vertrag festgelegt werden. Denn ein Ministerium zu besetzen bringt per se nicht viel, wenn man keine guten Inhalte vereinbart hat.
Wobei die SPD ja auch sicherlich im Kanzleramt sitzen wird. Ein Posten ist zumindest quasi fix.
Türmer (Jusos): Ja, natürlich. An diesen Posten sind ja auch Erwartungen geknüpft. Und das Kanzleramt hat dann ja auch die Richtlinienkompetenz.
Dzienus (GJ): Was aber für das ganze Kabinett wichtig sein wird: Dass Klimaschutz nicht nur die Aufgabe der Grünen ist. Klimaschutz muss sich in allen Bereichen finden. Das ist auch der Grund, warum die Grünen die Idee des Klimavorbehalts ins Spiel gebracht haben. Ich glaube, die Grünen sind gut beraten, zentrale Transformationsfragen in den Fokus zu nehmen und das passiert in vielen Ministerien. Was ich allerdings spannend fand, war, dass Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und Wirtschaftshistoriker Adam Tooze vor einem Finanzminister Lindner gewarnt haben.
Ali (Julis): In den Wirtschaftswissenschaften gibt es ein sehr breites Spektrum, unter dem auch vor allem die Frage, inwieweit Staatsschulden tragfähig sind, diskutiert werden. Und wenn ich jetzt einfach mal auf die letzten zehn Jahre zurückblicke, dann sehe ich doch, dass Länder wie Griechenland oder Italien durch ihre hohe Staatsverschuldung erhebliche Probleme hatten. Und dass Deutschland dank einer niedrigen Staatsverschuldung in der Krise imstande war, im entsprechenden Moment Geld bereitzustellen. Insofern ist es vielleicht keine ganz so schlechte Idee, dass wir nicht mehr ausgeben, als wir einnehmen.
Türmer (Jusos): Das führt uns weit weg von der Kabinettsfrage.
Werdet ihr in Zukunft auch als Jugendorganisationen enger zusammenarbeiten?
Dzienus (GJ): Auch wenn wir am Ende bei der Schuldenbremse nicht zusammenkommen, weiß ich, dass ich mit den Julis und den Jusos wahrscheinlich bessere asylpolitische Positionen vertrete, als es am Ende FDP, SPD und Grüne ausverhandeln. Da müssen wir, glaube ich, dann die Bündnisse schmieden, die für uns Sinn ergeben.
Ist es für euch manchmal deprimierend, dass ihr als Jugendorganisationen näher ans Ziel kommt, das euch eigentlich wichtig wäre, als es die Mutterpartei am Ende umsetzen kann?
Türmer (Jusos): Wir haben das Privileg, dass wir uns dann manchmal ganz gezielt auf gewisse Fragen konzentrieren können. Was uns aber eint, ist ein ähnliches politisches Diskursverständnis. Und das hilft dann manchmal.
Ali (Julis): Wenn ich auf das FDP-Wahlprogramm schaue, stehen da über 100 Forderungen der Jungen Liberalen drin. Natürlich haben wir an einigen Stellen noch Punkte, wo wir sagen würden, da würden wir noch ein bisschen weiter gehen. Das ist immer so. Aber was wäre denn unsere Aufgabe, wenn es nicht die ist, die FDP immer weiter voranzutreiben und besser zu machen?