Philipp Türmer (Jusos, links), Sarah-Lee Heinrich (Grüne Jugend) und Nemir Ali (Junge Liberale) beim watson-Ampel-Gipfel.Bild: watson / benny krüger
Exklusiv
Seit sieben Monaten regiert in Deutschland die selbsternannte Fortschrittskoalition – die Ampel. SPD, Grüne und FDP haben es sich in ihrem Koalitionsvertrag zur Aufgabe gemacht, Deutschland zu modernisieren.
Beim Ampel-Gipfel von watson diskutieren drei Vertretende der Ampel-Jugendorganisationen über die Politik der Regierung: Sarah-Lee Heinrich, die Bundessprecherin der Grünen Jugend (GJ), Philipp Türmer, stellvertretender Vorsitzender der Jungsozialisten (Jusos), und Nemir Ali, stellvertretender Vorsitzender der Jungen Liberalen (Julis).
Der Ampel-Gipfel erscheint in drei Teilen. In diesem zweiten Teil geht es um die Energiekrise, die Verlängerung von Atommeiler-Laufzeiten und das Neun-Euro-Ticket.
Watson: Sarah-Lee, Nemir und Philipp, die Abhängigkeit von Russland ist aktuell ein prägendes Thema. Akut können wir nicht viel daran ändern. Nun gibt es den Vorschlag eines politischen Tauschgeschäfts, um uns unabhängiger zu machen: Atomkraft gegen Tempolimit.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Ich habe den Eindruck, dass einige Seiten in dieser Debatte mit der Verunsicherung von Menschen spielen und bewusst Fakten unterschlagen. Dass durch längere Laufzeiten der drei verbliebenen Atomkraftwerke maximal ein Prozent des Erdgasverbrauches eingespart werden könnten, wird bewusst verschwiegen, wenn man die Hoffnung weckt, Atomkraft würde uns durch den Herbst bringen.
Und dass die Union am Ende "Tempolimit gegen Atomkraftlaufzeiten" sagt, zeigt, dass hier politisches Kalkül dahintersteckt. Es geht nicht darum, echte Lösungen zu finden, sondern die Situation maximal politisch auszuschlachten. Das finde ich gefährlich.
Sarah-Lee Heinrich ist die Bundessprecherin der Grünen Jugend.Bild: watson / benny krüger
Nemir Ali (Julis): Ich sehe das naturgemäß etwas anders.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Echt?!
Nemir Ali (Julis): 15 Prozent unseres Stroms wird aus Gas gewonnen. Und 6 Prozent aus Kernenergie. Wenn wir die Kernkraftwerke bis in den kommenden Frühling laufen lassen würden, könnten wir dieses Gas ersetzen. Andernfalls hätten wir einen Gasmangel im Bereich Wärme oder in der Industrie. Oder wir müssten noch mehr Kohle verstromen. Da sind wir uns wohl alle einig, dass das keine optimale Lösung ist.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Das stimmt so nicht. Es gibt Berechnungen, dass mit einer Laufzeitverlängerung ein Prozent des Erdgasverbrauchs eingespart werden könnte. Mehr nicht. Nicht 15 Prozent, ein Prozent.
Nemir Ali (Julis): Ich habe gesagt: 15 Prozent unserer Stromversorgung kommen aus Gas, 6 Prozent aus Atom.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Was wir haben, ist ein Wärmeproblem. Da kann die Atomkraft uns erstmal nicht wirklich weiterhelfen. Die andere Frage, die sich stellt: Ist unsere Stromversorgung gefährdet? Robert Habeck hat deswegen einen weiteren Stresstest angeordnet, um genau das zu klären. Was dabei rauskommt, müssen wir erstmal abwarten. Aber es geht mir wirklich auf die Nerven, wie in Zeiten von totaler Verunsicherung irgendwelche Zahlen rumgeworfen werden, die wissenschaftlich nicht zu belegen sind.
Philipp Türmer ist der stellvertretende Vorsitzende der Jusos.Bild: watson / benny krüger
Philipp Türmer (Jusos): Ich möchte eine Sache festhalten: Das Tempolimit hat mit den Kernkraftwerken überhaupt nichts zu tun. Was wir hier sehen, ist Bullshitbingo. Die Union betreibt Opposition, indem sie irgendwelche Debatten, die nichts miteinander zu tun haben, miteinander verknüpft. Deshalb möchte ich sie in der Antwort nicht verknüpfen.
Zur Kernkraft wurde viel gesagt. Es ist bereits überprüft worden, dass wir die Kernkraft nicht brauchen. Wir haben uns bewusst dafür entscheiden, aus der Kernkraft auszusteigen. Es gibt nach allem, was wir bislang wissen, keine überzeugenden wissenschaftlichen Argumente, warum wir jetzt den Rückzug vom Rückzug machen sollten.
Ein anderer Punkt ist das Tempolimit. Das wäre ein wichtiger und einfacher Beitrag, ganz schnell die Nachfrage nach Öl zu reduzieren und dadurch Entlastungen letztendlich für alle zu schaffen. Denn, und das kann Nemir bestätigen, geringere Nachfrage senkt im Zweifel den Preis. Davon würden am Ende alle profitieren und zudem auch noch das Klima. Wir müssten nur ein paar Schilder aufstellen und könnten diese Maßnahme schnell umsetzen.
Watson: Wenn denn Schilder da sind.
Philipp Türmer (Jusos): Ich kann mir nicht vorstellen, dass es daran wirklich scheitert. Wir alle wissen aber, ich gucke zu dir rüber, Nemir, wer sich da ganz dringend mal bewegen müsste in der Ampel. Und ich habe die Hoffnung, dass sich irgendwann die Kraft des besseren Arguments in dieser Debatte durchsetzen wird.
Nemir Ali ist der stellvertretende Vorsitzende der Jungen Liberalen.Bild: watson / benny krüger
Nemir Ali (Julis): Ich sage gleich noch etwas zum Tempolimit, vorher nur ein Satz zur Kernenergie: National gibt es sehr viele Experten, die der Meinung sind, dass Kernenergie keine Brückentechnologie ist. Wenn wir aber auf das schauen, was der Weltklimarat sagt, dann ist Kernenergie sehr wohl eine Übergangstechnologie, die man auf dem Weg zur Klimaneutralität einsetzen sollte.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Der IPCC-Bericht, den du da ansprichst, bezieht sich aber nicht nur auf die Energieversorgung Deutschlands, sondern weltweit.
Nemir Ali (Julis): Warum soll das dann nicht für Deutschland gelten?
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Also: Atomstrom kann im Bereich Wärme das Gas nicht ersetzen. Das funktioniert nicht. Wir testen, ob die Stromversorgung unter verschärften Annahmen gesichert ist. Dann sehen wir weiter.
Es stellt sich aber auch die Frage der mittelfristigen Energieversorgung. Und da ist es doch so, dass Atomenergie für uns in Deutschland viel teurer ist als die Erneuerbaren Energien. Also ergibt sich auch aus finanzpolitischer Sicht die Frage nach einer Verlängerung der Laufzeiten nicht. Es ist wirklich unangenehm, dass wir ständig solche Scheindebatten führen, während es eigentlich darum gehen müsste, wie man die Menschen durch diese Energieknappheit und durch Herbst und Winter bringt.
"Wir müssen schauen, dass wir nicht nur diejenigen, die auf den ÖPNV angewiesen sind, entlasten. Sondern alle Menschen."
Nemir Ali, stellvertretender Vorsitzender der Julis
Nemir Ali (Julis): Die Tatsache, dass wir den Ausstieg aus der Kernenergie vorgezogen haben, führt schon seit Jahren dazu, dass wir deutlich mehr Kohlestrom in die Atmosphäre kippen. Insofern hat der IPCC sicherlich auch für Deutschland einen Punkt gehabt.
Ich möchte noch kurz was zum Tempolimit sagen: Wir beziehen glücklicherweise, und das ist auch durchaus das Verdienst von Robert Habeck, kaum noch Erdöl aus Russland. Insofern hat das mit Blick auf die Sanktionen gegen Russland keinen Vorteil. Der Klimaeffekt von einem Tempolimit ist sehr, sehr gering. Und wenn wir alle in Zukunft mit klimaneutralen Autos fahren, seien es E-Autos oder Fahrzeuge mit klimaneutralen Treibstoffen, dann ist das für das Klima komplett egal.
Watson: Ein wichtiger Sektor bei Entlastungen und Klimaschutz ist die Mobilität. Das 9-Euro-Ticket ist ein Erfolg.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Das mit dem 9-Euro-Ticket hat Volker Wissing super gemacht.
Philipp Türmer (Jusos): Von den ganzen Maßnahmen zur Entlastung war das 9-Euro-Ticket der größte Erfolg. Es hat genau bei den Leuten zu Entlastungen geführt, die sie gebraucht haben. Viele Menschen haben zusätzlich den öffentlichen Personennahverkehr genutzt.
Wir sehen gleichzeitig, dass wir unsere Klimaziele im Bereich Mobilität in den letzten Jahren immer verfehlt haben. Die Erfahrungen deuten also darauf hin, dass wir das Projekt des 9-Euro-Tickets fortsetzen sollten, im besten Fall in der jetzigen Form. Unser langfristiges Ziel muss nach wie vor der kostenfreie öffentliche Personennahverkehr sein.
Sarah-Lee Heinrich (GJ), Philipp Türmer (Jusos) und Nemir Ali (Julis) beim Ampel-Gipfel.Bild: watson / benny krüger
Watson: Fortgeführt werden wird es in dieser Form wahrscheinlich nicht. Dafür ist es wohl zu teuer.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Wir haben das als Grüne Jugend mal durchgerechnet: Es gibt die eine oder andere klimaschädliche Subvention, die man ganz schnell streichen könnte und dann hätte man nicht nur das Geld für die Finanzierung des Tickets zusammen.
Watson: Zum Beispiel?
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Dienstwagenprivileg, das Dieselprivileg und die Besteuerung von Kerosin. Wenn man das streicht, könnten 20,9 Milliarden Euro im bestehenden System kurzfristig umgeschichtet werden. Dann hätten wir die 10 Milliarden für das 9-Euro-Ticket zur Hand.
Wenn wir darüber hinaus noch Geld von der Straße auf die Schiene umschichten, könnten wir den öffentlichen Nah- und Fernverkehr richtig gut ausbauen. Denn was auch auffällig ist: Wir hatten plötzlich so komische Argumente in der Debatte, dass das 9-Euro-Ticket wegen der Auslastung der Bahn nicht möglich sei.
Aber eigentlich geht es ja andersrum: Leute steigen in die Züge, deswegen brauchen wir mehr Personal und den Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Und das ist schon ein Zukunftsprojekt für die Ampel.
"Natürlich hakt es hier und dort am Ausbau des Netzes, das heißt aber nicht, dass wir die Maßnahme als solche infrage stellen müssen."
Philipp Türmer, stellvertretender Vorsitzender der Jusos
Nemir Ali (Julis): Du hattest es ja gesagt: Würden wir das 9-Euro-Ticket über ein ganzes Jahr beibehalten, würde das 10 Milliarden Euro kosten. Das ist gegenwärtig schlichtweg nicht finanzierbar. Und wenn wir über Subventionen sprechen, was man genau streicht: Da haben wir sicherlich auch unterschiedliche Vorstellungen. Wir müssen aber schauen, dass wir nicht nur diejenigen, die auf den ÖPNV angewiesen sind, entlasten. Sondern alle Menschen. Deswegen wäre mein klares Plädoyer: Subventionen streichen und breite steuerliche Entlastung für alle ermöglichen.
Ich habe große Sympathien für die Idee eines bundesweiten Tarifsystems, um den ÖPNV attraktiver zu machen. Nur was wir nicht tun können, ist als Bund auf Dauer ein 9-Euro-Ticket finanzieren.
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Was man tun kann und was nicht, ist immer eine politische Entscheidung. Aber bei der Vereinheitlichung des Systems bin ich auf jeden Fall direkt dabei.
Philipp Türmer (Jusos): Wir könnten es finanzieren. Wir haben gerade gesehen, wie wir in Windeseile hundert Milliarden für die Bundeswehr mobilisiert haben. Wir würden uns damit endlich mal ehrlich machen, denn den öffentlichen Personennahverkehr attraktiver zu machen, dazu werden die Ticketpreise im kommunalen Bereich keinen Beitrag leisten. Der ÖPNV ist so oder so ein Subventionsgeschäft und wenn wir ihn jetzt massiv ausbauen würden, dann wird sich das noch intensivieren.
Wer mit dem ÖPNV fährt, stiftet einen gesellschaftlichen Wert. Einen Wert, der über die eigene Mobilität weit hinausgeht, sondern der auch darin besteht, dass man sich umweltfreundlich fortbewegt. Davon profitieren am Ende alle. Deshalb ist es angemessen, hier zu subventionieren. Das 9-Euro-Ticket ist ein funktionierendes Konzept. Natürlich hakt es hier und dort am Ausbau des Netzes, das heißt aber nicht, dass wir die Maßnahme als solche infrage stellen müssen.
Die Vertretenden der Ampel-Jugendorganisationen im Gespräch mit watson.Bild: watson / benny krüger
Nemir Ali (Julis): Genau dieser Netzausbau ist der springende Punkt: Wie will ich jemandem, der auf dem Land lebt, vermitteln, dass er nun ein subventioniertes ÖPNV-Ticket für Städter mitfinanziert? Auch, wenn er selbst nicht entlastet wird, weil er mit dem Auto fahren muss. Weil er heizen muss. Sollten wir den Menschen nicht eigentlich zugestehen, dass sie selbst entscheiden, wie sie mit ihrem Geld umgehen?
Wenn wir die ganze Zeit über finanzpolitische Fragen reden, ist das doch im Kern eigentlich der Dissens, den wir haben. Abgesehen von der Debatte, ob Schulden gut sind oder nicht, stellt sich die Frage: Trauen wir den Menschen zu, am besten zu wissen, was sie mit ihrem Geld machen – oder trauen wir es ihnen nicht zu?
"Es ist falsch zu behaupten, dass der Unterschied zwischen uns darin liegt, ob wir den Menschen zutrauen, dass sie frei über ihr Geld entscheiden können oder nicht."
Sarah-Lee Heinrich, Bundessprecherin der Grünen Jugend
Sarah-Lee Heinrich (GJ): Ich würde das nicht zu dem hohen Dissens hochjazzen. Du kannst gleichzeitig fragen: Warum soll der Berliner den Ausbau des Schienennetzes auf dem Land mitfinanzieren? Ganz einfach, weil es passieren muss. Sowohl der Ausbau als auch die Finanzierung der Ticketpreise müssen mit öffentlichem Geld passieren. Beide Seiten werden davon profitieren, wenn wir Geld in die Hand nehmen.
Es ist falsch zu behaupten, dass der Unterschied zwischen uns darin liegt, ob wir den Menschen zutrauen, dass sie frei über ihr Geld entscheiden können oder nicht. Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass wir als Grüne Jugend der Meinung sind, dass es ein gut aufgestelltes öffentliches Gemeinwesen braucht – und ihr als Liberale das anders seht. Mobilität ist ein Grundrecht. Es stellt sich nur die Frage, wie man das organisiert.
Nemir Ali (Julis): Und wie man es finanziert, weil wir eben nicht unbegrenzt Geld zur Verfügung haben.
Im dritten Teil des Interviews diskutieren Sarah-Lee Heinrich, Philipp Türmer und Nemir Ali über Vermögenssteuern und die Schuldenbremse, über die Klimakrise und die Vorbereitungen für den Corona-Herbst.