"Unsere erste Diktatur ist die Schule" stand auf einem Banner der selbst ernannten "Bad Students", die sich am 19. August 2020 vor dem Bildungsministerium versammelt hatten, um Reformen zu fordern. In diesem Jahr weigerten sich Hunderte von thailändischen Schülern, weiterhin "good students" zu sein und sich der als willkürlich empfundenen Hierarchie in Schulen und den Übergriffen von Lehrern und Schulleitern unterzuordnen.
Parallel zu den von Studenten und Jugendlichen angeführten Pro-Demokratie-Demonstrationen fingen viele Schüler an, eigene Proteste auf dem Schulhof zu organisieren. Es ging dabei um die Aufhebung strenger Vorschriften, unter anderem zu Haarschnitten und Schuluniformen, die sie als übergriffig und archaisch erachten, sowie um eine ausführliche Lehrplanreform.
Viele dieser ehemaligen Schüler dürfen bei den Parlamentswahlen am 14. Mai 2023 zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. Die Anzahl der Erstwähler ist mit etwas mehr als vier Millionen – 7,67 Prozent aller Wahlberechtigten – dieses Jahr besonders hoch.
Eine hohe Wahlbeteiligung gilt als wahrscheinlich, denn mit diesem Urnengang geht eine große Erwartungshaltung in der Bevölkerung einher, insbesondere unter jungen Menschen. Es steht viel auf dem Spiel, da die neuen 500 Abgeordneten anschließend zusammen mit den 250 ernannten Senatoren den nächsten Premierminister wählen.
Die aktuelle politische Landschaft Thailands lässt sich vor dem Wahltag grob in zwei Blöcke unterteilen. Auf der einen Seite stehen die Befürworter des Status Quo: Vom Establishment gestützte, konservative und militärdominierte Parteien, die aktuell die Regierung bilden. Auf der anderen Seite befinden sich die aktuellen Oppositionsparteien, allen voran die Pheu-Thai-Partei (PTP) und die Move-Forward-Partei (MFP), die sich eine zivil geführte Regierung sowie Reformen wünschen.
Die thailändische Gesellschaft strukturiert sich zurzeit vor allem anhand dieser Konfliktlinie, die in vielen Fällen auch eine Generationenfrage ist.
Mit großer Spannung wird daher erwartet, wie die junge Generation am Sonntag abstimmen wird. Etwas mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten sind jünger als 40 Jahre und können den Wahlausgang so erheblich beeinflussen.
Beobachter unterstreichen, dass das demokratische Bewusstsein vieler junger Wähler in den letzten Jahren landesweit gestiegen ist. Die von Jugendlichen angeführten Proteste in den Jahren 2020 und 2021 spielten dabei eine wichtige Rolle, obwohl ihre Forderungen nach Reformen der Verfassung erfolglos endeten und viele Demonstranten anschließend für Meinungsäußerungen oder die Teilnahme an Demonstrationen strafrechtlich verfolgt wurden.
Dieses gestiegene Demokratiebewusstsein spiegelte sich letztes Jahr auch in den Gouverneurs- und Stadtratswahlen in Bangkok wider, als der pro-demokratische Kandidat gemeinsam mit den beiden größten Oppositionsparteien einen Erdrutschsieg errang.
Junge Menschen aus der Hauptstadt und anderen Unistädten, die sich ein Studium leisten können, sind politisch besonders engagiert. Einer Umfrage zufolge wünschen sich thailändische 18- bis 30-Jährige in Bangkok in erster Linie politischen Wandel und berufliche Chancen, gute Bildung und soziale Wohlfahrt, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit sowie umweltpolitische Maßnahmen und eine Stärkung des öffentlichen Gesundheitssystems.
Diese jungen Menschen geben an, für Parteien und Kandidaten primär auf Basis von Integrität, Ideologie und Erfahrung sowie ihrem Bild der jungen Generation abstimmen zu wollen, anstatt Nachkommen von Politikerfamilien zu wählen.
Mehrere Wahlprogramme versprechen Studenten eine Verbesserung des Bildungswesens, etwa durch die Abschaffung der Gebühren, die Rückzahlung von Bildungsdarlehen und bessere Karrierechancen nach dem Abschluss. Den meisten Vorschlägen mangelt es aber an klaren Umsetzungsplänen. Dies gilt für thailändische Parteiprogramme im Allgemeinen, auch zu allen Wirtschaftsfragen, die wochenlang im Zentrum des Wahlkampfes standen.
Allein die Move-Forward-Partei ist in ihren Angeboten etwas konkreter. Im Gegensatz zu anderen Parteien befasst sie sich auch mit jungen Menschen, die keine Studenten sind, und schlägt etwa vor, die Kultur- und Kreativwirtschaft stärker zu unterstützen, um Arbeitsplätze und Wachstum zu generieren. Nicht zuletzt wegen ihres programmatischen Profils ist diese Partei populär unter jungen Wählern.
Seit der Wahl 2019, der ersten nach dem Militärputsch im Mai 2014, haben sich viele junge Menschen als Kandidaten für das Parlament aufstellen lassen. Viele begründen diese Entscheidung damit, dass sie, egal ob als Aktivist, Arzt oder Rechtsanwalt, Einschränkungen in ihren Berufen erlebt haben, die sie daran hinderten, ihren Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Nun wollen sie in die Politik, um dies zu ändern.
Rangsiman Rome, 30 Jahre alt, war etwa politischer Aktivist, als er an der Universität studierte. Nach dem Putsch von 2014 wurde er wegen politischer Äußerungen angeklagt und inhaftiert. Im März 2019 wurde er Oppositionsabgeordneter und setzte sich in der letzten Legislaturperiode für die Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten ein.
Sasinan Thamnitinan, 34, ist eine Menschenrechtsanwältin, die in den letzten Jahren viele Mandanten im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit vertrat. Als Anwältin kämpfte sie mit ihrem Team auch dafür, vor Gericht Hosen tragen zu dürfen. Nun kandidiert sie in Bangkok für einen Sitz im Parlament.
Auch für das Amt des Premierministers sind die Favoriten, laut Umfragen des Meinungsforschungsinstituts NIDA, zwei junge Politiker aus Oppositionsparteien: Pita Limjareonrat, 42, ist der Spitzenkandidat der MFP, der Nachfolgepartei der progressiven Future-Forward-Partei. Diese wurde nach ihrem guten Abschneiden bei den Wahlen 2019 wegen angeblicher Verstöße während des Wahlprozesses vom Verfassungsgericht aufgelöst. Paetongtarn Shinawatra, 36, ist ihrerseits eine Spitzenkandidatin der PTP.
Ihr Vater, Thaksin Shinawatra, und ihre Tante, Yingluck Shinawatra, wurden beide durch Putschs als Premierminister abgesetzt. Nun soll die jüngere Generation des Thaksin-Clans die größte Oppositionspartei Thailands wieder an die Macht bringen.
Die PTP wird allen Prognosen nach diesem Jahr wieder die meisten Sitze im Unterhaus des Parlaments gewinnen. Auch die MFP wird laut Umfragen viele Stimmen erhalten, insbesondere die der jungen Generation. Aufgrund des Wahlsystems könnte sich das konservative und militärdominierte Lager der bisherigen Regierungskoalition dennoch an der Macht halten.
Die thailändische Verfassung von 2017 sieht vor, dass 250 Senatoren gemeinsam mit den 500 gewählten Abgeordneten über den Ministerpräsidenten abstimmen. Die Senatsmitglieder wurden 2018 durch ein von der Militärführung ernanntes Komitee ausgewählt und gelten dementsprechend als loyal gegenüber dem Establishment.
Um Premierminister zu werden, benötigt ein Kandidat die Mehrheit der insgesamt 750 Sitze, sprich mindestens 376 Stimmen. Um 376 Sitze zu erreichen, streben die PTP und die MFP einen Erdrutschsieg an. Dieser gilt jedoch als unwahrscheinlich.
Die Reaktion traditioneller Machtzentren und Institutionen wie der Wahlkommission, der Gerichte und der Armee auf das Votum wird zudem eine zentrale Rolle spielen. Wie im Zuge der Wahlen 2019 befürchten viele Bürger ein Parteiverbot oder die Disqualifizierung einzelner Kandidaten zum Erhalt des Status Quo.
Es bleibt also abzusehen, inwieweit das finale Ergebnis die Präferenzen des Wählers widerspiegeln wird – und ob die Jugendlichen sich im neuen Parlament und der Regierung am Ende vertreten fühlen.