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Schutz der sexuellen Identität: Diese Grundgesetzänderung ist geplant

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Das Grundgesetz soll zugunsten queerer Menschen angepasst werden. Bild: pexels / isi parente
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Der Schutz der sexuellen Identität könnte bald im Grundgesetz stehen: Aber reicht das?

Es ist ein historischer Schritt. Die "sexuelle Identität" soll in Artikel 3 des Grundgesetzes aufgenommen werden. Ziel ist es, queere Menschen endlich explizit vor Diskriminierung zu schützen. Doch einige Personen bleiben bei diesem Vorstoß noch immer außen vor.
08.10.2025, 18:0408.10.2025, 18:04

Der Bundesrat hat am 26. September eine historische Entscheidung getroffen: Mit deutlicher Mehrheit beschloss die Länderkammer, eine Gesetzesinitiative zur Aufnahme der "sexuellen Identität" in Artikel 3 des Grundgesetzes in den Bundestag einzubringen. Berlins Regierender Bürgermeister und Initiator Kai Wegner (CDU) feierte den Beschluss als "wichtiges Signal für Respekt und Gleichbehandlung".

Der Gesetzentwurf aus Berlin sieht nun vor, Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes um das Merkmal "sexuelle Identität" zu ergänzen. Diese würde damit endlich neben Merkmalen wie Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glaube, religiöser oder politischer Anschauung und Behinderung stehen und damit queere Menschen schützen. Seit der NS-Zeit sind sie die einzige verfolgte Gruppe, die bis heute keinen expliziten Schutz erhielt.

Grünen-Politikerin Nyke Slawik: "allerhöchste Zeit" – aber nicht genug

Die Zahl der Straftaten gegen queere Menschen ist 2023 dramatisch gestiegen – um 49,15 Prozent bei Delikten zur "Sexuellen Orientierung" und sogar um 104,80 Prozent bei "Geschlechtsbezogener Diversität". Ein starkes Signal der Verfassung ist also längst überfällig.

Deshalb gibt es auch aus der Opposition Zustimmung. Nyke Slawik (Bündnis 90/Die Grünen) führt hierzu an: "Insbesondere in einer Zeit, in der Nazis CSDs angreifen und queere Menschen Bedrohung erfahren, ist es allerhöchste Zeit, das Diskriminierungsverbot im Artikel 3 Grundgesetz auf queere Menschen auszudehnen."

Slawik geht jedoch noch weiter und fordert auch "eine Klarstellung, dass auch trans-, inter- und nicht-binäre Personen geschützt werden".

Denkbar sei demnach, "dass auch die 'geschlechtliche Identität' als Begriff explizit mit aufgenommen wird. Oder dass Bundestag und Bundesrat klarstellen, dass sie die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts teilen, dass der bereits in Artikel 3 geschützte Begriff 'Geschlecht' alle Geschlechter umfasst und dadurch auch trans-, inter- und nicht-binäre Personen vor Diskriminierung geschützt sind."

Die Autorin: Julia Monro
Die Aktivistin und Autorin Julia Monro engagiert sich seit Jahren aktiv in der Antidiskriminierungsarbeit für trans*Menschen. Sie selbst erkannte schon früh ihre transgeschlechtliche Identität, in ihren Dreißigern begann sie, auch öffentlich darüber zu sprechen. Seitdem ist sie eine der bekanntesten Stimmen für die Rechte von transgeschlechtlichen Menschen in Deutschland.
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Bild: imago images / dts Nachrichtenagentur

Maik Brückner, querpolitischer Sprecher bei den Linken, betont ebenfalls: "Uns geht jedoch der Begriff 'sexuelle Identität' nicht weit genug: Auch 'geschlechtliche Identität‘ muss in die Verfassung aufgenommen werden, damit auch trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen in den Schutz eingeschlossen werden."

"Sexuelle Identität" birgt Gefahr für Missbrauch von rechts

Ob "sexuelle Identität" ausreicht, darüber wird allgemein gerade viel diskutiert. Denn im Juristischen kommt es nicht nur auf die Wortwahl, sondern auch auf die Begründung und den herrschenden Zeitgeist an. Und dieser kann variieren, je nachdem, wer gerade regiert.

Die Sorge ist daher vor allem in der trans*Community groß, dass man den Begriff in einer rechten oder gar faschistischen Regierung umdeuten beziehungsweise anders interpretieren könnte. Vom Bundesverband Trans* heißt es dazu: "Queere Rechte sind immer nur einen Gesetzentwurf davon entfernt, abgeschafft zu werden."

Der Berliner Entwurf versucht dieses Problem zu lösen, indem er "sexuelle Identität" in der Begründung sehr weit definiert: als "geschlechtliches Selbstverständnis eines Menschen" und Schutz vor "geschlechtsbezogener Erwartung der Heteronormativität". Der Begriff soll also auch geschlechtliche Identität beinhalten und er "erkennt explizit die Geschlechtervielfalt an".

Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) wird 'Sexuelle Identität' bereits verwendet. Auf der Webseite schreibt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, dieser Begriff "sollte ursprünglich alle diese Personengruppen umfassen. Mittlerweile hat die europäische Rechtsprechung jedoch klargestellt, dass trans* und inter* Personen im AGG rechtlich durch das Merkmal Geschlecht geschützt sind, da es sich um eine Geschlechtsidentität handelt und nicht wie bei Lesben, Schwulen und Bisexuellen um eine sexuelle Orientierung."

Ein Blick nach Großbritannien zeigt, dass Geschlecht unterschiedlich interpretiert werden kann und eine Neubewertung erforderlich scheint. Der UK Supreme Court stellte im April klar, dass trans*Frauen ausdrücklich nicht unter diese Definition von Geschlecht fallen.

Um es rechtssicher zu formulieren, hatte das Deutsche Institut für Menschenrechte bereits 2020 in einer Stellungnahme empfohlen, eine "explizite Aufnahme" in Erwägung zu ziehen und das Merkmal Geschlecht um den Einschub "aufgrund des Geschlechts, einschließlich der körperlichen Geschlechtsentwicklung, der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsausdrucks" zu ergänzen.

In Deutschland kommt es nun auf die Union an, denn eine Verfassungsänderung bräuchte eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Bei der aktuellen Sitzverteilung ist das kaum zu schaffen – zumal die Union bisher noch eine eher ablehnende Position vertritt. Mit der gewählten Formulierung hoffen die Initiator*innen, auch CDU-geführte Länder ins Boot zu holen – was tatsächlich im ersten Schritt gelungen ist, wie die Abstimmung im Bundesrat zeigte.

Ob sich auch die Unionsfraktion im Bundestag davon beeindrucken lässt, bleibt abzuwarten. Schon 2011 scheiterte ein ähnlicher Vorstoß trotz absoluter Mehrheit an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit. Die damalige Begründung: eine Verfassungsänderung sei lediglich "Symbolpolitik" – ein immer wiederkehrendes Argument der Konservativen.

Unrühmliche Historie der Union bei queeren Rechten

Dass diese Initiative ausgerechnet von der Berliner CDU kommt, ist daher verwunderlich. Wann immer es um queere Rechte ging, stand die Union bisher auf der Bremse. Eine CDU/CSU-geführte Regierung hat nie proaktiv aus eigenem Antrieb queere Rechte gestärkt. Jeder Fortschritt musste erkämpft, erstritten oder vom Bundesverfassungsgericht erzwungen werden.

  • Das Lebenspartnerschaftsgesetz von 2001 wurde von Rot-Grün eingeführt – und sofort von den CDU-regierten Ländern Bayern, Sachsen und Thüringen vor dem Bundesverfassungsgericht beklagt. Die Union argumentierte, die Lebenspartnerschaft verstoße gegen den besonderen Schutz von Ehe und Familie im Grundgesetz.
  • Bei der Ehe für alle war es 2015 ebenfalls der Bundesrat, der den Vorschlag einbrachte, und die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ 2017 die Abstimmung nur als "Gewissensentscheidung" zu – nachdem die SPD im Wahlkampf Druck gemacht hatte. Merkel selbst stimmte mit Nein. Die Mehrheit der Unionsfraktion ebenfalls. Das Gesetz kam trotzdem zustande.
  • Auch beim Selbstbestimmungsgesetz hat die Union ewig blockiert und die Abschaffung des Transsexuellengesetzes verweigert. Und in der jüngsten Entscheidung sollen trans*Personen nun per Verordnung dauerhaft markiert und zwangsgeoutet werden. Darüber kannst du hier mehr erfahren.

Hoffnung und Sorgen der LGBTQ-Community

In jüngster Zeit ist zu beobachten, dass immer mehr Gesetzesvorhaben zu queeren Rechten, besonders bei trans*Themen, von der Union blockiert werden. Beim Gewalthilfegesetz machte sie den Ausschluss von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen zur Bedingung, bevor sie zustimmten. Dazu kommen mehrere Vorstöße zu Genderverboten, die darauf abzielen, nur binäre Geschlechter anzusprechen und alle anderen unsichtbar zu machen.

Die Sorge ist deshalb groß, dass ähnliche Forderungen nun auch beim Grundgesetz geäußert werden könnten. Eine echte Verfassungsreform würde die Rechte aller Menschen ernst nehmen. Diese dürfen nie der Beliebigkeit politischer Interessen unterliegen, sondern müssen in einem demokratischen System fest verankert werden.

Deutschland braucht jetzt eine ehrliche Debatte über Diskriminierungsschutz im Grundgesetz und eine Regierung, die Verantwortung übernimmt, ohne zu spalten. Die Berliner Initiative ist ein erster Schritt – aber eben nur ein halber.

Die Befürchtung in der trans*Community ist groß, dass ihre Interessen von der Union erneut wegverhandelt werden. Wenn schon eine Verfassungsänderung, dann richtig: mit klarem Schutz für alle LSBTIQ-Menschen, nicht nur für einen Teil. Die gesamte queere Community hat Jahrzehnte auf diesen Moment gewartet. Sie verdient mehr als politische Kompromisse auf Kosten ihrer Rechte. Sie verdient eine Verfassung, die alle Menschen schützt – unabhängig davon, wen sie lieben und wer sie sind.

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