Jamila Schäfer ist seit 2018 stellvertretende Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. foto: gruene.de
Gastbeitrag
18.04.2021, 11:4619.04.2021, 18:54
jamila schäfer, gastautorin
Die 27-jährige Jamila Schäfer ist eine von zwei stellvertretenden Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen. Im exklusiven Gastbeitrag für watson schreibt sie darüber, wie sich Europa nach der Corona-Krise weiterentwicklen sollte.
Maskendeals, Corona-Chaos und Schlammschlacht bei CDU und CSU – verständlicherweise haben viele Menschen den Eindruck, dass die Gestaltung der Zukunft zum Wohle aller nicht weit oben auf der Prioritätenliste der Regierung steht.
Und nicht erst seit der Coronakrise macht sich bei vielen Resignation breit: Die massiven Versäumnisse bei der Bekämpfung der Klimakrise gefährden unsere Lebensgrundlagen. Die europäische Migrationspolitik setzt mit einer menschenunwürdigen Abschottungspolitik hart erkämpfte Menschenrechte aufs Spiel. Es macht sich der Eindruck breit, dass Politikerinnen und Politiker nicht in der Lage sind, eine Zukunft zu bauen, die diesen Namen auch verdient.
Doch genau das gilt es zu beweisen: dass die Demokratie zeitgemäße Antworten auf Krisen geben kann. Angela Merkel hat sich als dienstälteste Regierungschefin in der Europäischen Union mit ihrem moderierenden Politikstil auf den europäischen Gipfeltreffen einen Namen gemacht. Doch ihr Politikstil, der sich häufig auf das Verwalten und Moderieren zurückzieht, ist nur begrenzt zukunftsfähig.
Wer Demokratie auf das Lösen kleinteiliger Probleme beschränkt, überlässt viele Entscheidungen einer auf kurzfristige Profite ausgerichteten globalisierten Wirtschaft sowie autoritären Machtakteuren, die die rechtsbasierte internationale Ordnung aushebeln wollen. Damit verpassen wir langfristige und sozial-ökologische Zielsetzungen.
"Europapolitik ist kein Verwaltungsakt, sondern die Chance für echten Klimaschutz, die Stärkung der Menschenrechte, neue zukunftsfähige Arbeitsplätze."
Der Rückzug Merkels nach dieser Bundestagswahl birgt also eine Chance: Es ist Zeit für eine Bundesregierung, die eine konkrete Vision für die Zukunft der Europäischen Union vorlegt. Wir können der Politik gemeinsam ihre Handlungsfähigkeit zurückgeben – für eine Politik, die vorsorgt und verändert, statt nur zu verwalten und zu reagieren. In Deutschland, wie auch in Europa.
Es gilt, das Versprechen auf Gleichheit, Freiheit und Solidarität neu zu begründen. Europapolitik ist kein Verwaltungsakt, sondern die Chance für echten Klimaschutz, die Stärkung der Menschenrechte, neue zukunftsfähige Arbeitsplätze, eine innovative Infrastruktur mit eigenen technologischen Standards sowie ein krisenfestes Handels- und Finanzsystem. Wenn wir diese Chance nutzen wollen, müssen wir der Europapolitik neues Leben einhauchen.
Wir Grüne wollen die EU zu einer Föderalen Europäischen Republik weiterentwickeln. Dafür braucht es mehr als politische Reformen von oben. Es braucht vor allem eine Politisierung von "unten", durch die Bürgerinnen und Bürger Europas. Daher wollen wir die Europäische Bürgerinitiative stärken, europäische Bürger*innenräte einführen und mit einem europäischen Vereinsrecht den Grundstein für eine aktive europäische Zivilgesellschaft legen.
Zu einer Demokratisierung der EU gehört außerdem, Grundrechte endlich auch vor nationalen Gerichten einklagbar zu machen, sodass sich EU-Bürgerinnen und Bürger gegen die Beschränkungen ihrer Freiheitsrechte mit Berufung auf die Europäische Grundrechtecharta auch gegenüber ihren nationalen Regierungen wehren können.
Statt das nationale Bruttoinlandsprodukt wollen wir die europäischen Klimaziele und Menschenrechte zum Maßstab aller politischen Entscheidungen machen. Konkret heißt das zum Beispiel, mit einem ambitionierten Lieferkettengesetz zu verhindern, dass Produkte aus Kinder- und Zwangsarbeit oder illegaler Regenwaldabholzung auf den europäischen Markt gelangen. So verhindern wir, dass unser Konsumverhalten anderswo Schaden anrichtet und können den Binnenmarkt nutzen, um proaktiv globale Standards zu setzen.
Die EU ist Anker für internationale Kooperation und das gemeinsame Anpacken von globalen Herausforderungen. Gerade deshalb hat europäische Politik die Verantwortung, in einer globalisierten Welt der internationale Player schlechthin für klimagerechte und menschenrechtskonforme Politik zu sein.
Doch nur, wenn wir innerhalb der EU für eine strikte Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sorgen, können wir diese Werte auch nach außen glaubwürdig vertreten. Statt weiter Elendslager wie in Moria zu befördern und uns an die Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen schleichend zu gewöhnen, dürfen wir Asylverfahren nicht länger auf die Außengrenzen auslagern, sondern müssen stattdessen Kommunen endlich durch die Stärkung ihrer finanziellen Spielräume bei der Aufnahme von Schutzsuchenden unterstützen.
Europa kann viel mehr, wenn wir das wollen. Wir haben es in der Hand!
Anmerkung der Redaktion inklusive Richtigstellung: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir behauptet, der hier formulierte Urteilsspruch würde eine Frau betreffen, die sich gegenüber Medien als Betroffene zum MeToo-Skandal bei der Linken geäußert hatte. Das war inhaltlich falsch. Wir bedauern den Fehler und haben die entsprechenden Passagen korrigiert bzw. entfernt. Richtig ist: Verurteilt wurde eine Frau, die sich als Reaktion auf die damaligen Medienberichte auf Social Media zu dem Fall äußerte.