Erst war China der globale Hotspot der Corona-Pandemie, dann war es Europa, mittlerweile sind es die USA. Doch nun steigen auch in mehreren Ländern Lateinamerikas die Zahlen der Infektionen und Todesopfer deutlich an. Lateinamerika droht, schon bald der nächste Hotspot der weltweiten Krise zu werden – mit Brasilien als dessen Zentrum.
Die Sorgen sind groß. Denn die Bedingungen in Südamerika sind von vornherein schwieriger: Krankenhäuser sind unterfinanziert, Sozialsysteme schwach, die Volkswirtschaften kriseln. In Brasilien, dem bevölkerungsreichsten Land in Lateinamerika, leben 210 Millionen Menschen. Am Montag registrierte die Johns-Hopkins-Universität 241.080 Corona-Infizierte. Das ist die vierthöchste Zahl weltweit.
Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro hatte vor einigen Wochen im Zusammenhang mit dem Coronavirus noch von "Hysterie" gesprochen, Corona-Maßnahmen sind ihm zuwider. Inzwischen verzeichnet Brasilien laut Gesundheitsministerium schon 15.633 Corona-Tote, wie aus Daten des Gesundheitsministeriums in Brasília hervorgeht.
Allein der brasilianische Bundesstaat São Paulo hat demnach China bei der Zahl der offiziell gemeldeten Corona-Toten überholt: In dem mit mehr als 40 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Bundesstaat starben bis Samstag 4688 Menschen im Zusammenhang mit dem Virus. Zum Vergleich: In China mit mehr als einer Milliarde Einwohnern starben den Behörden zufolge 4637 Menschen an der Lungenkrankheit Covid-19.
Intensivmediziner Luciano Cesar Azevedo aus São Paulo glaubt sogar, dass Brasilien insgesamt 100.000 Tote beklagen werden müsse. Das sagte er dem US-Magazin "The Atlantic". Die Metropole Rio de Janeiro werde zu Brasiliens New York werden.
Dafür, dass das Land zuletzt bei den Neu-Infizierten und den Corona-Toten jeweils einen Negativrekord nach dem anderen vermeldet hat, scheinen die Menschen aber wenig besorgt zu sein. Sie hoffen, dass das Virus an ihnen vorübergeht.
"Gehen Sie nach Hause!", schallte es am Samstag auf der Strandpromenade in Copacabana aus den Lautsprechern, wie ein Reporter der Deutschen Presse-Agentur berichtet. Polizisten auf Motorrädern und in Streifenwagen bahnten sich ihren Weg durch die Menge. Doch die Menschen gingen an diesem sonnigen Samstag einfach weiter. Es ist – anders als in Deutschland und anderen europäischen Staaten, wo Tausende gegen Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen – eine ungewöhnliche Ruhe, die in Brasilien herrscht.
"Und die Situation wird sich mit diesem Präsidenten noch verschlimmern", schimpft der Portier Filomeno in einem Mehrfamilienhaus in Copacabana im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Während etwa Argentiniens strenge Ausgangssperre gute Ergebnisse brachte – 8068 Menschen haben sich bislang nachweislich infiziert, 373 Patienten sind gestorben –, hält der Bolsonaro nichts von Einschränkungen und ruft zu Versammlungen auf.
Mexikos linkspopulistischer Präsident Andrés Manuel López Obrador, der sich ebenfalls lange sträubte, erließ inzwischen Anti-Corona-Maßnahmen. Aber eine Pflichtquarantäne gibt es auch in Lateinamerikas mit 130 Millionen Einwohnern zweitbevölkerungsreichstem Land noch nicht. 5000 Personen sind in Mexiko bereits im Zusammenhang mit dem Coronavirus gestorben.
In Brasilien, einem Land mit kontinentalen Ausmaßen, haben Städte und Bundesstaaten immerhin eigene Maßnahmen erlassen. Selbst Rio ist geteilt in eine noch offene Südzone und eine Nordzone, in der die Stadt ein halbes Dutzend Viertel in den Lockdown versetzt hat.
Wie widersprüchlich und chaotisch Brasiliens Antwort auf Corona ist, zeigte sich am Freitag, als Gesundheitsminister Nelson Teich seinen Rücktritt erklärte – nicht einmal einen Monat, nachdem Bolsonaro seinen Vorgänger Luiz Henrique Mandetta wegen Unstimmigkeiten im Umgang mit dem Virus gefeuert hatte.
"Brasilien hätte eine der besten Antworten auf diese Pandemie haben können", sagte die Brasilianerin Marcia Castro, Gesundheitswissenschaftlerin an der Harvard University, der "New York Times". Brasilien war bei Gesundheitskrisen wie Aids oder Zika ein Vorreiter unter den Schwellenländern. "Aber jetzt ist alles unorganisiert, niemand arbeitet an gemeinsamen Lösungen."
Die Politik in Brasilien ist mehr mit sich beschäftigt als mit der Virus-Bekämpfung. Der Präsident hat mit dem Austausch von Ministern und einem Verfahren gegen sich zu tun. In Korruptionsermittlungen nahm die Bundespolizei in Rio mehrere Politiker und Unternehmer fest, die beim Kauf von Atemgeräten mehrere Millionen Euro veruntreut haben. Selbst in einer Pandemie nutzen sie die Gelegenheit, um sich unrechtmäßig zu bereichern. Die Bevölkerung schlägt sich irgendwie alleine durch.
Corona war in Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas zunächst das Virus der Reichen gewesen. Der erste registrierte Fall war ein Geschäftsmann aus São Paulo, der nach Norditalien gereist war. Für Mexiko wurde – ähnlich wie das österreichische Ischgl – der US-Skiort Vail zum Infektionsherd, wo sich eine Gruppe mexikanischer Geschäftsleute getroffen hatte. Börsenchef Jaime Ruíz Sacristán steckte sich dort an, er starb im April.
Die meisten Infektionen in Argentinien wurden zu Beginn in den wohlhabenden Vororten im Norden von Buenos Aires registriert, deren Bewohner oft ins Ausland reisen.
Mittlerweile hat sich Sars-CoV-2 immer weiter ausgebreitet, auch die ärmeren Viertel und Slums erreicht. In den ärmlichen Siedlungen – in Brasilien "Favelas", in Argentinien "Villas" genannt – fehlt es den Bewohnern oft am Nötigsten wie Wasser und Seife, zugleich leben ganze Familien in einem Raum zusammen. Abstand halten ist da kaum möglich.
Fliegende Händler und Tagelöhner, Reinigungskräfte und Müllsammler, Schuhputzer und Mariachi-Musiker können auch kein Homeoffice machen. Bis zu 60 Prozent in der Region haben keinen Arbeitsvertrag, keine Rücklagen und nur geringen sozialen Schutz. "Wenn wir hier nicht arbeiten, gibt uns niemand Geld", sagt Roberto Velázquez, der an einem Stand am Straßenrand in Mexiko-Stadt mit zwei Mitarbeitern weiter Tacos verkauft, der dpa. "Wir könnten unsere Familien nicht ernähren." Derzeit kämen sie auf ein Drittel ihrer üblichen Einnahmen und gerade so über die Runden.
Aber auch in anderen Ländern Südamerikas ist das Virus auf dem Vormarsch. Und verglichen mit den Ländern Europas haben die Staaten hier mit vielen anderen Problemen zu kämpfen.
Der argentinische Sozialaktivist und Hochschullehrer Juan Grabois sagte in einem Interview der Zeitung "La Nación": "Wir sind in einen perfekten Sturm geraten: drohende Staatspleite, Pandemie, Armut." Argentinien, die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas, steckt seit Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise und steuert auf die nächste Staatspleite zu. Die Corona-Krise verschärft die sozialen Unterschiede noch. In einer Studie der katholischen Universität UCA in Buenos Aires heißt es: "Wir erleben nicht nur eine Epidemie, sondern auch eine neue Welle struktureller Armut, die vor allem die schwächsten Teile der Gesellschaft treffen wird."
Besonders viele Infektionen in Südamerika während der vergangenen Woche verzeichnete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Bericht von Samstag auch für drei andere Länder: Demnach wurden in Peru und Chile zwischen 10.000 und 100.000 neue Infektionen gemeldet. Die Zahl der bestätigten Infektionen lag in Mexiko am Wochenende bei mehr als 47.000, hinzu kommen knapp 30.000 Verdachtsfälle. Allerdings wird in Mexiko wenig getestet.
(as/mit Material von dpa)