Lampedusa versinkt im Chaos. Auf der Insel herrscht der Ausnahmezustand, der Bürgermeister hat den Notstand ausgerufen. Massen an flüchtenden Menschen, die gleichzeitig die italienische Insel erreichen, sind der Grund dafür.
Es ist eine Rekordzahl an Flüchtenden, die auf Lampedusa in den vergangenen Tagen ankamen: mehr als 7000 innerhalb von nur 48 Stunden. Im Hotspot von Lampedusa befanden sich Donnerstagmorgen über 6.000 Menschen, darunter auch viele Familien mit Minderjährigen. Das an einem Ort, wo es eine maximale Kapazität von 400 Plätzen gibt.
Hinzu kommt: Erst am Mittwoch hatte Deutschland bekannt gegeben, das Aufnahmeprogramm für Geflüchtete aus Italien auszusetzen. Berlin hat infolge des starken Migrationsdrucks im Lande einen Stopp der Überstellungen erklärt.
Klingt dramatisch. Wer dazu noch aktuelle Bilder in den Nachrichten und auf Social Media sieht, hat den Eindruck, dass die Lage besonders schlimm ist. Doch wie kritisch ist die Situation wirklich? Sind die Sorgen der Bevölkerung berechtigt? Und woher kommt der plötzliche Flüchtlingsstrom?
Der Sprecher der Internationalen Organisation für Migration für Italien, Flavio Di Giacomo, gibt eine Einschätzung zur Lage. Er erklärt, was auf Lampedusa vor sich geht und warum die Insel derzeit ein Problem hat.
Für den IOM-Sprecher Di Giacomo ist die Situation derzeit noch im Rahmen, aber durchaus "dramatisch" und vergleichbar mit der großen Flüchtlingskrise von 2015/2016. Damals wurden von 115.000 Ankünften nur 9.440 auf Lampedusa registriert. "Das sind immer noch Zahlen, die nichts mit den großen Migrationskrisen wie der griechischen (2015) oder der ukrainischen mit 120.000 Ankünften in drei Monaten zu tun haben", erklärt Di Giacomo.
Für Di Giacomo herrscht derzeit nicht – wie in einigen Medien suggeriert – in ganz Italien ein Notfall, sondern allenfalls auf Lampedusa selbst. Das liege an den sich verändernden Routen von Flüchtenden: "Jetzt kommen sie nicht mehr aus Libyen, sondern hauptsächlich aus Tunesien."
Und: Das mindert seiner Meinung nach auch nicht die humanitäre Notlage. 2066 Tote gab es allein seit Anfang des Jahres. Dazu wird eine hohe Dunkelziffer vermutet: Es sei wahrscheinlich, dass es viele sogenannte Geisterschiffsbrüche auf offenem Meer gab: "Weil die Migranten, die Tunesien verlassen, oft mit sehr baufälligen Eisenbooten reisen. Diese können sinken, ohne dass jemand es bemerkt."
Ein Grund dafür, dass Lampedusa derzeit ein begehrtes Ziel für Schleppernetzwerke ist: Die Insel sei via Boot in acht bis zehn Stunden von Tunesien aus zu erreichen. Zumindest, wenn es bei der Überfahrt keine Probleme gibt. Andernfalls könne es schon einmal bis zu 25 bis 30 Stunden dauern. Di Giacomo sagt dazu gegenüber "Fanpage.it":
Zwar gab es in den vergangenen Tagen einen heftigen Anstieg der Ankünfte, "aber vorher gab es Wochen, in denen praktisch niemand angekommen ist", betonte der IOM-Sprecher. Es handele sich also um einen akuten operativen Notfall, nicht um einen zahlenmäßigen.
Auf politischer Ebene hat sich einiges gewandelt, wie der Experte erklärt. Deshalb verändern sich die Flüchtlingsströme. So flüchten derzeit weniger Menschen aus Libyen, vor allem aus dem Westen des Landes. Auch aus Tunesien ändern sich laut Di Giacomo die Ströme:
In den vergangenen zwei Monaten hat die Zahl der Überfahrten von Libyen nach Tunesien zugenommen. Und auch Eritreer, Ägypter:innen sowie Sudanesen kommen über Tunesien nach Europa.
Zahlenmäßig hätte sich laut Di Giacomo der Flüchtlingsstrom, seit der Unterzeichnung der Absichtserklärung zwischen der EU und Tunesien in Rom, nicht verändert. Seit Januar ist der Zustrom mehr oder weniger stabil und kontinuierlich, abgesehen von einer wetterbedingten Unterbrechung im Mai: "Es ist eine Gauß-Kurve: Anflüge, Pausen und weitere Ankünfte", sagte der IOM-Sprecher.
Das sei definitiv der zentrale Punkt in Sachen Geopolitik: "Es gibt eine Krise in Tunesien, die den Anstieg der Flüchtlingsströme nach Italien beeinflusst." Zum ersten Mal sei Tunesien das Ausreiseland Nummer eins.
Dadurch gibt es eine weitere Veränderung: Als Geflüchtete noch hauptsächlich von Libyen aus aufbrachen, war es wegen der Rettung auf hoher See einfacher, die Situation zu bewältigen. "Jetzt werden die Menschen nicht mehr von Tunesien aus auf hoher See gerettet, weil das nie ein Gebiet war, das von großen Schiffen patrouilliert wurde." Deshalb kommen die Geflüchteten in den meisten Fällen mit Schlepper-Booten auf der Insel an. "Wenn sie früher gerettet und nach Sizilien gebracht worden wären, gäbe es diese Situation in Lampedusa nicht", ist Flavio Di Giacomo überzeugt.
Das erklärt auch die hohe Ankunftszahl: Während früher von etwa 120.000 Menschen nur 9000 auf Lampedusa ankamen, sind jetzt 60.000 bis 70.000 von 115.000 zur Insel gekommen.
Viel für Lampedusa, keine hohe Belastung für Italien.
Es sich die Frage: Warum dann nicht einfach wieder Menschen auf dem Meer retten? Darauf hat der Experte eine einfache Antwort: Früher konnte man mit einer einzigen Rettung eines großen Bootes aus Libyen 250 Menschen retten, heute fahren viele "Miniboote" von Tunesien aus. "Um 250 Menschen zu retten, braucht man fünf bis sechs Rettungsaktionen. Alles ist operativ viel komplizierter."
Welche Lösung könnte es also nach Meinung des Experten geben? "Eindeutig nicht die Schließung der Routen", sagt Di Giacomo. Denn es gehe um Menschen, die sich nach dramatischen Situationen auf den Weg machen. Die Hilfe und Schutz brauchen. "In Tunesien werden diese Migranten diskriminiert. Jene aus Libyen sind Opfer von Missbrauch und Folter."
Stattdessen müsse man weiterhin an den Push-Faktoren arbeiten: nämlich der Diskriminierung und der wirtschaftlichen und politischen Krise, die in Nordafrika herrscht. Einen Zusammenhang mit den aktuellen Überschwemmungen sieht er nicht, dafür sei das betroffene Gebiet zu weit entfernt von Tunesien.
Der Experte kritisiert außerdem die Kurzsichtigkeit der Regierung in Italien. Denn: "Diese Zahlen sind nicht unvorhersehbar." Es sei schon vorher klar gewesen, dass es schwierige Tage geben werde. "In den letzten Jahren hat Italien eine kurzfristige, etwas kurzsichtige Sichtweise eingenommen. Das Land hat angesichts des Rückgangs der Ankünfte die Zahl der Aufnahmeplätze verringert." Man dürfe sich nicht durch die Ankunft von 120.000 Menschen erschrecken lassen, die "immer noch 0,2 Prozent der italienischen Gesamtbevölkerung ausmachen", sagt er.
Künftig müsse man sich auf solche Situationen wieder besser vorbereiten. Zumal die Ströme wegen großer geopolitischer Krisen nicht abreißen werden und es keine regulierten Routen gebe. "In den nächsten 20 Jahren werden die Ströme von Klimamigranten zunehmen", sagt er. Aber: 85 Prozent der afrikanischen Geflüchteten bleiben ihm zufolge in Afrika. Es gebe also keinen Ansturm auf Europa, wie vielfach befürchtet.