Ursula Von der Leyen und Boris Johnson verhandeln über den BrexitBild: dpa
International
12.12.2020, 12:1912.12.2020, 12:30
Weniger als 48 Stunden vor Ablauf der
selbstgesetzten Frist für einen Durchbruch bei den Gesprächen über
einen Brexit-Handelspakt wachsen die Zweifel an einem Übereinkommen. Die beiden Verhandlungspartner beschlossen, dass es spätestens am Sonntag zu einer Entscheidung kommen soll.
Bundesaußenminister Heiko Maas zufolge wird eine Einigung "mit
jedem Tag schwieriger, aber sie ist immer noch möglich", wie der
SPD-Politiker den Zeitungen der Funke-Mediengruppe sagte. Er fügte
hinzu: "Deshalb verhandeln wir als EU weiter, solange das Fenster
auch nur einen Spalt offen ist. Wir werden sehen, was bis Sonntag
gelingt, und dann die Lage wieder bewerten."
Theoretisch sind noch längere Verhandlungen möglich
Theoretisch wäre Zeit bis kurz vor dem Jahreswechsel. Erst dann
läuft die Übergangsphase aus, in der trotz des EU-Austritts der
Briten noch alles beim Alten bleibt. Britische Medien spekulieren
daher, ob selbst bei einem Eingeständnis des Scheiterns am Sonntag
nicht doch noch eine Rückkehr an den Verhandlungstisch möglich wäre.
Der britische Premierminister Boris Johnson schwor seine
Landsleute schon mal auf einen No Deal ein. Es sei "sehr, sehr
wahrscheinlich", dass die Verhandlungen scheiterten, sagte er. Doch
auch das sei eine Lösung, die "wunderbar für Großbritannien" sei. Man
könne schließlich genau das tun, was man wolle vom 1. Januar an,
sagte der Premier am Freitag.
Bedeutendster Streitpunkt neben der Fischerei ist das Thema
Wettbewerbsbedingungen. Brüssel stellt sich auf den Standpunkt, dass
die Konkurrenz aus Großbritannien nur dann auf zollfreien Handel
hoffen kann, wenn auf beiden Seiten des Ärmelkanals gleiche
Arbeitnehmer-, Sozial- und Umweltstandards gelten.
Es müssen noch bedeutende Streitpunkte ausgeräumt werden
Doch das ist für London eine Frage des Prinzips. Wieder und
wieder betonen britische Regierungsvertreter, es gehe um die
Souveränität ihres Landes. Durch den Brexit wolle man die Kontrolle
über die eigenen Gesetze, Grenzen, Gewässer und das eigene Geld
wiedererlangen - und nicht die EU-Standards übernehmen, auf die man
auch überhaupt keinen Einfluss mehr habe. Ein Unding ist für Johnson,
dass die EU seiner Darstellung nach verlangt, Großbritannien solle
künftig Regeländerungen der EU auf Schritt und Tritt folgen.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen konterte am Freitag in
Brüssel: Die Briten seien frei, von europäischen Regeln abzuweichen
in der Zukunft, beispielsweise bei Umweltstandards. Doch die
Bedingungen zum europäischen Binnenmarkt müssten dann eben auch
angepasst werden, sprich: Zölle eingeführt werden.
Johnson will mehr Selbstbestimmung —von der Leyen will die Einhaltung von EU-Richtlinien
Bei der Fischerei geht es darum, dass die Briten künftig selbst
bestimmen wollen, wer wie viel in ihren Gewässern fangen darf. Doch
die ausschließliche Wirtschaftszone, die das Land inzwischen
beansprucht, steht nicht im Einklang mit der historisch gewachsenen
Aufteilung der Fischgründe, wie sie im Rahmen der Europäischen
Fischereipolitik festgelegt wurde. Wirtschaftlich spielt das Thema
kaum eine Rolle, doch symbolisch ist es für die ehemalige Seemacht
Großbritannien kaum zu unterschätzen. Auch hier will keine der beiden
Seiten nachgeben.
Kommentatoren in Großbritannien sind sich uneins, was hinter der
Patt-Situation steckt. Beide Seiten könnten auf ein Einlenken des
anderen setzen - und dabei eine schwere Fehlkalkulation riskieren.
Oder lenkt Johnson möglicherweise im letzten Moment im Tausch gegen
symbolische Zugeständnisse ein und alles ist nur eine sorgfältig
geplante Choreographie, die ihn in den Augen der Brexit-Hardliner als
Kämpfer darstellen soll? Es wäre nicht das erste Mal. Doch sicher
sein kann niemand.
Noch ist kaum abzusehen, wie die Verhandlungen ausgehen werden
Für den Fall, dass es schiefgeht, würden mehr als ein Drittel der
Briten (35 Prozent) das Scheitern der Verhandlungen ihrer eigenen
Regierung anlasten, wie eine Blitzumfrage des
Meinungsforschungsinstituts YouGov am Freitag ergab. Etwas mehr als
ein Viertel (27 Prozent) sähen die Verantwortung hingegen bei der
Europäischen Union. Ein weiteres Viertel würde beide Seiten zu
gleichen Teilen die Schuld geben.
(lfr/dpa)
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