Im Gazastreifen kämpft das israelische Militär gegen Geister. Geister, die plötzlich überall in dem umkämpften Küstenstreifen auftauchen und innerhalb kurzer Zeit weite Strecken zurücklegen können.
Die Terroristen der Hamas sind für die Israelis oft kaum zu greifen und das hat vor allem ein Grund: Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten ein riesiges Tunnelsystem errichtet, das den ganzen Gazastreifen durchzieht und für die Hamas Rückzugsort und Trumpf im Kampf gegen Israel ist. Eine neue Studie zeigt jetzt das ganze Ausmaß des Tunnelnetzes.
Die verborgenen Gänge seien ein "unterirdischer Albtraum", heißt es in der Untersuchung der US-Militärakademie West Point. Die Studienmacher:innen sprechen gar von einer "unterirdischen Stadt" unter Gaza. Der Studie zufolge sollen die Hamas rund 1300 Tunnel gegraben haben, mit einer Gesamtlänge von 500 Kilometern. Dabei ist das Gebiet, in dem die Terroristen seit 2007 herrschen, gerade mal 41 Kilometer lang und maximal ein Dutzend Kilometer breit.
Nach dem brutalen Überfall der Hamas am 7. Oktober, als die Terroristen in einem Blitzangriff israelische Städte und Orte angriffen und rund 1400 Menschen töteten, hatten israelische Politiker die vollständige Vernichtung der Terrormiliz als Kriegsziel ausgerufen. Es sind die Tunnel der Hamas, die dabei zum größten Hindernis werden dürften.
Denn einige der Schächte sollen bis zu 40 Meter tief sein und nach Angaben der Armee 450 Kilogramm schweren Bomben standhalten können. Die Hamas verstecken in den Tunneln wohl ganze Batterien von Raketenwerfern, die sie bei Bedarf schnell aus- und wieder einfahren können. Zudem sollen sie dort Lebensmittel und Wasser horten. Auch eine eigene Stromversorgung und Belüftungsanlagen haben die Kämpfer in den unterirdischen Gängen installiert.
Das Perfide: das Tunnelnetz der Hamas ist auch deshalb schwer anzugreifen, weil es unter extrem dicht besiedeltem Gebiet liegt. In dem schmalen Gazastreifen leben 2,4 Millionen Menschen. Die Terroristen nutzen Zivilist:innen somit bewusst als Schutzschilde vor israelischen Luftangriffen. Israels Armee vermutet auch unter Krankenhäusern Zugänge zu dem Tunnelsystem.
Vor allem im Zuge der jüngsten Berichterstattung um die freigelassenen Geiseln der Hamas erlangten die Tunnel weltweit Aufmerksamkeit. Die 85-jährige Yocheved Lifschitz, die rund zwei Wochen von den Terroristen gefangen gehalten wurde, berichtete, die Hamas würde unter der Erde auch mit Motorrädern fahren. Eine vergangene Woche freigelassene israelischen Geisel erzählte, dass sie nach ihrer Entführung "zwei oder drei Stunden lang" durch ein unterirdisches Tunnelnetz geführt worden sei. Das verborgene Labyrinth sei "die Hölle unter der Erde".
Laut Israel steuert die Hamas die meisten ihrer Angriffe aus den Tunneln heraus. Sie könne "ihr unterirdisches Netzwerk nutzen, um Kämpfer zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zu bringen – oder um sie von Gefahren fernzuhalten", sagt Mick Ryan, ein pensionierter US-General, der jetzt für die Denkfabrik Center for Strategic and International Studies in Washington arbeitet.
Um die Blockade des Gazastreifens durch Israel nach der Machtübernahme der Hamas 2007 zu umgehen, begannen die Palästinenser:innen hunderte von Stollen unter der Grenze zum ägyptischen Sinai zu graben. Sie schmuggelten Menschen, Waren, aber auch Waffen und Munition hinein und heraus. "Seit 2014 ist das Ziel der Hamas jedoch, ein Netz von unterirdischen Tunneln zu schaffen, mit denen man sich durch den Gazastreifen bewegen kann", sagt ein israelischer Militärvertreter.
Ägypten flutete einige Tunnel, Israel zerstörte nach eigenen Angaben bis 2021 hundert Kilometer des unterirdischen Labyrinths. Doch die Hamas grub immer neue Gänge. Der Bau jedes Kilometers Tunnel kostet dem Militärvertreter zufolge rund 500.000 Dollar (479.000 Euro).
Die israelische Armee hat nach Angaben westlicher Experten Spezialkommandos für das Aufspüren und die Zerstörung von Tunneln gebildet. Die Einheit Yahalom habe "neue Methoden für die unterirdische Kriegsführung entwickelt", sagt Ex-General Spencer. Auch eigens ausgebildete Hunde sollen dabei zum Einsatz kommen.
(mit Material von dpa und afp)