Der zweite Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine nähert sich. Nach wie vor sterben täglich zahlreiche Soldat:innen an der Front, es gibt Bombenalarm und dazu kommen Berichte über Rattenplagen im Schützengraben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wirbt bei den Nato-Staaten weiterhin für modernere und weitreichendere Waffensysteme.
Währenddessen wird aber auch die Produktion von Munition und Drohnen im eigenen Land angekurbelt. Dabei gehe es auch um die wichtige Herstellung von Drohnen mit größerer Reichweite, erklärt Selenskyj in einer seiner täglichen Videobotschaften. Wenn es nach dem Präsidenten gehe, könnte sich wohl ein weiterer Faktor im militärischen Bereich zeitnah ändern.
Übereinstimmenden Medienberichten zufolge soll Selenskyj versucht haben, Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj zu entlassen. Aus Sicht von Mick Ryan, Verteidigungsexperte des Thinktanks Cisis und früherer Generalmajor der australischen Armee, könnte eine Entlassung fatale Folgen für den Krieg haben.
Auf X, früher Twitter, schreibt Ryan dazu: "In den letzten 48 Stunden wurde viel darüber spekuliert, dass Präsident Zelenskyy beschlossen hat, General Saluschnyj von seinem Amt als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte zu entheben." In einem 25-teiligen Thread analysiert Ryan daraufhin, welche Auswirkungen die Entscheidung auf den Krieg haben könnte.
Auf Druck der USA und Großbritanniens sowie hochrangiger Militärs habe Selenskyj diese Entscheidung rückgängig machen müssen, berichtete die "Times" am Dienstagabend. Der "Guardian" meldete unter Berufung auf Oppositionsabgeordnete, der Präsident habe Saluschnyj am Montag zum Rücktritt aufgefordert, was dieser jedoch abgelehnt habe.
Die Spannungen zwischen Selenskyj und Saluschnyj seien schon seit längerer Zeit deutlich geworden, meint Ryan. Das sei etwa daran deutlich geworden, dass Saluschnyj wohl verboten wurde, ohne Genehmigung Selenksyjs mit der Presse zu sprechen. Hinzu kämen der ausbleibende Erfolg der Gegenoffensive, Saluschnyjs Interview mit "The Econimist" und Vermutungen darüber, er hätte Ambitionen, selbst Präsident zu werden.
Der 50-jährige Saluschnyj wurde wenige Monate vor dem russischen Einmarsch vom Februar 2022 Oberbefehlshaber der Armee. Unter seinem Kommando hielten die ukrainischen Truppen der Invasion stand und eroberten sogar besetzte Gebiete zurück. Der General gilt als beliebt bei seinen Soldaten und in der Bevölkerung. Deshalb wurden ihm auch politische Ambitionen nachgesagt, die er aber dementierte.
Ryan macht deutlich: Es sei normal, dass es in zivil-militärischen Beziehungen in Frieden und Krieg immer Spannungen gebe. In Demokratien sei der zivile Führer der mächtigere Partner. Sollte Saluschnyj abgesetzt werden, könnte das dennoch große Auswirkungen haben, meint Ryan.
So sei Saluschnyj etwa ein populärer Anführer der ukrainischen Streitkräfte. Zudem nehme er die Position eines intellektuellen Führers ein, der sich viel mit Strategie beschäftigt. Gleichzeitig liege Saluschnyj seine Truppe offenbar am Herzen. Ungewöhnlich für einen Oberbefehlshaber, meint Ryan. Es sei diese Mischung aus fachlicher Kompetenz, Zivilcourage und intellektueller Bescheidenheit, die wichtige strategische Führungseigenschaften ausmache – und schwer zu ersetzen sei.
Aber es müsste nicht nur ein passender Ersatz für den Oberbefehlshaber gefunden werden. Vielmehr, meint Ryan, würde eine solche Neubesetzung eine Kettenreaktion auslösen, in deren Folge es Personalverschiebungen bis nach unten in der Befehlskette geben könnte. Das wäre wohl nicht weiter problematisch, denn militärische Organisationen seien dafür ausgelegt. "Einige werden aufsteigen, während andere, die zuvor auf dem Vormarsch waren, stagnieren werden", fasst Ryan zusammen.
Dramatischer wäre wohl eine andere Funktion, die vom Oberbefehlshaber ausgefüllt wird. Denn der ist verantwortlich für die Beratung des Präsidenten. Ein möglicher Nachfolger bräuchte aus Sicht von Ryan wohl einige Zeit, um sich einzuarbeiten und diese Aufgabe so zu erfüllen, wie Saluschnyj es vermag. Und auch die Beziehungen zu anderen Ländern könnten leiden. Denn auch hier unterhalte Saluschnyj als Oberbefehlshaber enge Beziehungen zu USA und Nato. Hier müsste sich ein neuer Generalstabschef erst einmal einarbeiten.
Ein Wechsel in der Führungsetage könnte zudem dazu führen, dass Kritiker:innen dies als Beweis für Instabilität der Ukraine nutzen könnten. Ryan nennt hier exemplarisch den US-Kongress. Die dort in der Überzahl vertretenen Republikaner machen Druck auf die Biden-Regierung, die Ukrainehilfen runterzufahren. Eine mögliche Absetzung könnte zudem der russischen Desinformationskampagne in die Hände spielen, Wladimir Putin befände sich auf dem Weg zum Sieg.
Hinzukomme, dass der Oberbefehlshaber nach seiner möglichen Entlassung wohl nicht verschwinden werde. Der Militärexperte rechnet zwar damit, dass Saluschnyj die Kriegsanstrengungen seines Landes nicht durch eine Verschleppung seines Rückzuges belasten würde – dennoch, meint er, dürfte es schwer werden, eine neue Position für das Schwergewicht zu finden.
Ryan kommt zu dem Schluss, dass die Beziehung zwischen Selenskyj und Saluschnyj an einem Tiefpunkt angelangt ist. Nun, meint er, gibt es nur zwei Optionen: Versöhnung oder Rauswurf. "Das ist eine Tragödie für die Ukraine. Aber solche Krisen sind auch die Natur der zivil-militärischen Beziehungen in Demokratien in Friedens- und Kriegszeiten", schreibt er.
Das Verteidigungsministerium unterdessen dementiert jegliche Berichte über eine mögliche Entlassung Saluschnyjs.
(Mit Material der dpa)