"Das war mein Fehler", Worte, die man wohl nicht oft von einem General hört. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Waleri Saluschnyj, redet nun ganz unverblümt über die Gegenoffensive. Seine Einschätzung sollte seinen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nicht erfreuen.
"Es wird sehr wahrscheinlich keinen tiefen und schönen Durchbruch geben", gibt er schonungslos in einem Beitrag für die britische Zeitschrift "The Economist" zu. Sprich, mit einem weiteren Fortschritt sei kaum noch zu rechnen. Der Bodenkrieg in der Ukraine hat sich festgefahren – und das sieht der ukrainische Oberkommandierende Saluschnyj als große Gefahr.
Die blutigen Kämpfe würden laut ihm am Ende wohl nur einer Seite nutzen: Russland. Denn die russische Armee könne dadurch Zeit gewinnen und ihre militärische Schlagkraft wieder aufbauen.
Nur ein Technologiesprung könne einen Ausweg aus diesem Stellungskrieg öffnen, führt der General aus. "Ein Stellungskrieg dauert lange und birgt enorme Risiken für die Streitkräfte der Ukraine und für den Staat." Stillstand auf dem Schlachtfeld helfe nur Russland, die Verluste seiner Armee auszugleichen.
Dabei gesteht er selbst einen Fehler ein.
Saluschnyj selbst habe angenommen, dass es gelingen würde, Putins Truppen "ausbluten" zu lassen – in dem Glauben, selbst in Russland werde der Nachschub an Truppen irgendwann versiegen. Zahlenmäßig, militärisch und wirtschaftlich sei Russland der Ukraine aber weit überlegen.
Er gibt zu, sich gründlich getäuscht zu haben: "Russland hat mindestens 150.000 tote Soldaten zu beklagen. In jedem anderen Land der Welt hätten solche Verluste dafür gesorgt, dass der Krieg endet.“ Das ukrainische Verteidigungsministerium beziffert aktuell die Zahl der russischen Truppenverluste auf mehr als 300.000 Soldaten. Die Angaben der Ukraine lassen sich unabhängig nicht überprüfen.
In der Ukraine kommen aber nach Einschätzung britischer Militärexperten beide Seiten mit ihren Offensiven kaum voran. Das geht aus dem täglichen Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums in London hervor. Der ukrainische Vorstoß im Süden sei "relativ statisch" zwischen zwei gut vorbereiteten defensiven Positionen der Russen. Gleichzeitig sei ein großangelegter Angriff der Russen bei dem Ort Awdijiwka in der östlichen Region Donbass angesichts starker ukrainischer Abwehr zum Erliegen gekommen.
Doch Saluschnyj warnt im "The Economist": "Russland darf nicht unterschätzt werden." Der Gegner habe zwar viele Soldaten verloren und Kreml-Chef Wladimir Putin scheue eine Generalmobilmachung. Aber auch die Ukraine habe Probleme, Reserven aufzubauen. Der Kreis der wehrpflichtigen Männer müsse ausgeweitet werden.
Anders als bei der Rückeroberung großer Gebiete im vergangenen Jahr haben sich in diesem Sommer ukrainische Hoffnungen auf Geländegewinne kaum erfüllt. Allerdings haben die ukrainischen Verteidiger Russlands Stellungen auf der Krim geschwächt und die russische Marine aus dem westlichen Schwarzen Meer vertrieben. Selenskyj und seine Führung halten an der Befreiung aller besetzten Gebiete als Kriegsziel fest.
Daran zweifelt aber auch ein Ex-Berater des ukrainischen Präsidenten.
Lange galt Oleksij Arestowytsch als ein enger Berater von Selenskyj. Im Januar 2023 schmiss er aufgrund von Konflikten mit Selenskyjs Umfeld hin. Laut "Stern" verließ er Anfang September die Ukraine und lebt nun in Europa sowie den USA. Er behauptet, die politische Führung der Ukraine würde ihn politisch verfolgen.
Im Interview mit "Stern" äußert er sich nun kritisch zum Krieg in der Ukraine. "Wir sind in einer Sackgasse. Es ist Zeit, sich an den Verhandlungstisch zu setzen", meint er. Er teilt die Meinung von Saluschnyj, dass die Ukraine in einen Stellungskrieg rutscht.
Er sagt:
De facto hat laut ihm der Oberkommandiere Saluschnyj das Ende der Offensive erklärt. "Die Sackgasse, und es ist eine blutige Sackgasse, ist offensichtlich", führt er aus. Ohne die nötige Unterstützung vom Westen ist ein Sieg laut ihm nicht möglich. Erst kürzlich sorgte ein Bericht in der "Time" für Diskussionen über den "einsamen Kampf" von Selenskyj.
"Niemand glaubt so sehr an unseren Sieg wie ich. Niemand", betonte Selenskyj im Gespräch mit "Time". Doch er spüre, dass das weltweite Interesse an dem Krieg nachgelassen hat. Das gilt auch für die internationale Unterstützung. Es werde schwieriger.
"Das Erschreckendste ist, dass sich ein Teil der Welt an den Krieg in der Ukraine gewöhnt hat", führte er aus. Die Müdigkeit über den Krieg breche wie eine Welle ein. Man sehe es in den USA, in Europa.
Die öffentliche Unterstützung für die Hilfe an die Ukraine bricht vor allem in den USA zunehmend ein. Laut einer Reuters-Umfrage im Oktober wollen 41 Prozent der US-Amerikaner:innen, dass der Kongress mehr Waffen an Kiew liefert. Im Juni, als die Ukraine eine große Gegenoffensive startete, waren es noch 65 Prozent. Auch die Stimmung innerhalb des Kongresses kippt zunehmend, sodass es US-Präsident Joe Biden schwerfällt, seine Hilfspakete für die Ukraine durchzuboxen.
(Mit Material der dpa)