Auch auf seinem offiziellen Twitter-Account informiert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj über das Kriegsgeschehen.Bild: Reuters / NURPHOTO
International
Anfang dieses Jahres kursierte in den sozialen Netzwerken die gelbe Küche: Russische Raketenangriffe hatten ein Loch in die Wand eines Wohnhauses gerissen. Zum Vorschein kam eine intakt gebliebene Küche mit gelben Schränken. Da ein Bild bekanntlich mehr sagt als tausend Worte, wurde den Internetnutzer:innen mit nur einem Blick aufs Handydisplay vor Augen geführt, wie der Krieg Einzug ins Familienidyll hält.
Die gelbe Küche erlangte zu Beginn des Jahres Berühmtheit.Bild: Reuters / Stringer
Die gelbe Küche zeigt exemplarisch, dass der Krieg in der Ukraine auch eine mediale Schlacht ist. Letztlich versuchen beide Kriegsparteien, das Narrativ zu bestimmen – und Social Media spielt dabei eine entscheidende Rolle. Dabei kann Russland zwar auf seine Fake-News verbreitenden Trollfabriken setzen, aber jenseits davon wirkt Putins Propagandamaschine in etwa so behäbig und gestrig wie eine Tageszeitung im Vergleich zur Handy-App.
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Im Gegensatz dazu weiß die Ukraine die Macht der Bilder und die Geschichten, die der Krieg schreibt, medienwirksam in den sozialen Netzwerken für sich zu nutzen – beziehungsweise kommen ihr entsprechende Online-Inhalte zugute. Auch wir von watson haben auf Instagram viel Content dieser Art aufgegriffen.
Anlässlich des Jahrestags der russischen Invasion wollen wir an einige Social-Media-Phänomene, die in der Zeit viral gegangen sind, erinnern und an diesen beispielhaft illustrieren, wie in den sozialen Netzwerken vom und über den Krieg berichtet wird.
1. Traktoren schleppen Panzer ab
Aus moralischer Sicht sind die Rollen klar verteilt: Die Ukrainer:innen sind "die Guten", die Russen "die Bösen". Solange man nicht Sahra Wagenknecht heißt, sollte eigentlich kein Zweifel daran bestehen, wer Opfer und Täter ist. Das Image des Underdogs fügt sich hierbei nahtlos ein.
So tauchten zu Beginn des Krieges Videos auf, wie ukrainische Bauern mit ihren Traktoren liegengebliebene russische Panzer abschleppen. Die Panzer wurden zurückgelassen, weil aufgrund mangelnder Logistik die Treibstofflieferungen ausblieben. Und da so ein Fahrzeug etwa zwei Millionen Dollar wert ist und aus rund 40 Tonnen Metall besteht, ist das kein schlechter Straßenfund.
Die Szene vermittelte die klassische Symbolik des Kampfs David gegen Goliath. Die "kleine" Ukraine gegen das riesige Russland mit seinem mächtigen Militärapparat. Dabei braucht es nicht einmal die (vermeintlich unterlegene) ukrainische Armee; es waren die Bauern – sozusagen das historische Fundament eines jeden Staates –, die eine überhebliche russische Armee in ihre Schranken wies.
2. Selenskyj bleibt in Kiew
Ebenfalls kurz nach Kriegsbeginn zeigte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zur allgemeinen Überraschung per Selfie aus Kiew. Die Botschaft war klar: Mut machen, nicht zurückweichen, dem Feind vor Ort die Stirn bieten. Selenskyj zeigte sich im Laufe der Zeit an der Front mit Soldat:innen, ließ sich per Video in Unis oder auf Filmfestivals zuschalten und empfing Staatschefs aus aller Welt. Trotz schwieriger Lage nicht einigeln!
Kontrahent Putin pflegt hingegen die Inszenierung des unnahbaren Despoten. Wenn er westliche Staatschefs an seinem meterlangen Konferenztisch empfängt, ist die Distanzierung symbolisch wie zwischenmenschlich nicht mehr zu verhehlen. Frontbesuche? Fehlanzeige! Dass aktuell Gerüchte die Runde machen, er würde in einem gepanzerten Sonderzug leben, der auf geheimen Strecken durchs Land fährt, trägt zum Gesamteindruck bei.
3. Grün, grün, grün sind alle meine Kleider
Selenskyjs olivgrüner Pullover hat mittlerweile einen ähnlichen ikonografischen Wiedererkennungswert wie das Outfit von Charlie Chaplin. Selenskyj präsentiert sich als Mann des Volkes, der im Kontrast zu den bürokratischen, Schlips tragenden Regierungschefs aus Frankreich oder Deutschland anpacken kann und Resultate sehen will (zum Beispiel einen EU-Beitritt oder Waffenlieferungen).
4. Offizielle Social-Media-Inhalte
Selbstverständlich lancieren auch die offiziellen Kanäle die Verbreitung bestimmter Meldungen und Informationen. Dazu gehören beispielsweise die offiziellen Social-Media-Accounts von Selenskyj oder des ukrainischen Verteidigungsministeriums.
Mit scheinbar lapidaren Nachrichten wie dem Minenspürhund, dem einen Orden verliehen wird, wird Content kreiert, der likeable und shareable ist, auf emotionaler Ebene berührt, Sympathie erzeugt und den Krieg auf eine erträgliche Weise näherbringt. Damit nicht ignoriert wird, was nicht ignoriert werden darf.
Vor allem das Verteidigungsministerium weiß durchaus geschickt Social-Media-Kampagnen einzusetzen. Vergangenes Jahr wurde beispielsweise ein Video produziert, das die Schrecken russischer Luftangriffe zeigt und für die Lieferung entsprechende Verteidigungstechnik wirbt.
Speziell an Deutschland gerichtet wurde sogar ein Remake der bekannten "Supergeil"-Werbung von Edeka produziert, mit dem um Waffenlieferungen gebeten wurde. Alles keine Hochglanzoptik, sondern bewusste Socia-Media-Ästhetik.
Solche Clips mögen sich dabei weniger an die politischen Entscheidungsträger richten, sondern eher versuchen, die Stimmung in der Bevölkerung zu beeinflussen.
5. Selfies von der Front
Es sind aber nicht nur staatliche Institutionen oder journalistische Medien, die Bilder und Nachrichten aus dem Krieg verbreiten – im Zeitalter von Social Media posten Soldat:innen direkt von der Front. Das macht das Kriegsgeschehen ohne Filter durch Behörden oder Journalist:innen nahbarer und unmittelbarer – im Guten wie im Schlechten.
Ähnlich wie bei den Traktoren nehmen wir dies als Geschichten von Tapferkeit und Heldenmut wahr. Die russischen Frontberichte, wie sie bei Telegram oder durch abgefangene Telefonate Verbreitung finden, erzählen hingegen von einer "Shitshow". Der scheinbar übermächtige Gegner wird durch seine eigene Inkompetenz bloßgestellt.
6. Die tapfere Bevölkerung
Auch die ukrainische Bevölkerung teilt weiterhin ihr Leben auf Social Media – nur mit dem Unterschied, dass ihr Alltag nun vom Krieg geprägt ist.
Videos einer jungen Ukrainerin, die sich während des Bombardements in Kiew filmt, oder von dem siebenjährigen Mädchen, das im Bunker "Let It Go“ singt, gehen weltweit viral. Ähnlich wie die Posts von der Front sind es Geschichten von den Helden des Alltags und dem Willen, durchzuhalten.
Dergleichen sucht man auf russischer Seite vergebens. Der Aggressor kann nicht der Held sein. Ähnlich wie bei den Soldat:innen, die von der "Shitshow" berichten, richten sich die Heldengeschichten aus Russland gegen das repressive Regime: Im Netz werden die Mutigen an der Heimatfront gefeiert, die gegen Putin und den Krieg protestieren.
7. Memes aus aller Welt
Social-Media-Nutzer:innen, die nicht direkt von diesem Krieg betroffen sind, tragen ebenso zu seiner medialen Darstellung bei. Wie alles im Reallife wird auch der Krieg in Form von Memes verarbeitet und kommentiert. So wird auf mal mehr, mal weniger unterhaltsame, aber vor allem auf leichtzugängliche Weise das Bild vom Ukraine-Krieg geprägt.
Für Journalist:innen und Durchschnitsuser:innen gilt bei alledem, wachsam zu sein, welchen Quellen und Geschichten man in dieser Kakophonie von Bildern und Nachrichten Glauben schenken darf.
Und Russland? Russland hatte sein "Z", das eher im Reallife als Online zu einer Art Meme wurde. Wie Putins imperiales Machtstreben wirkt auch seine Propaganda wie ein Relikt vergangener Tage: Der große Diktator, der vor Menschenmassen Reden über Blut und Ehre hält. Bilder von riesigen Tischen sowie dicken Raketen und langen Panzerrohren, die gewaltsam in die Ukraine eindringen – Phallussymbole eines Chauvinisten, der sich das Gestern zurückwünscht.