In Russland sind nur noch wenige Oppositionspolitiker:innen verblieben. Etwa Alexej Nawalny wurde inhaftiert, Boris Nemzow gar ermordet. Boris Nadeschdin, ein enger Vertrauter Nemzows, hat kürzlich mit seiner Kritik am russischen Militäreinsatz in der Ukraine für Aufsehen gesorgt. Politiker:innen, die ähnliche Meinungen geäußert haben, mussten das Land bereits verlassen oder landeten im Gefängnis.
Eigentlich ist auch der Ukraine-Krieg etwas, worüber man in der Öffentlichkeit in Russland nicht sprechen sollte. Vor allem dann nicht, wenn es um Zweifel an der Kriegsführung oder Kritik an der Existenz des Krieges geht. Wer es doch tut, muss unter Umständen mit ernsten Konsequenzen rechnen, etwa einer Haftstrafe oder Schlimmerem.
Der russische Oppositionspolitiker Nadeschdin lässt sich den Mund offenbar nicht verbieten: Er hat die Invasion in der Ukraine kürzlich als "fatalen Fehler" bezeichnet. Nadeschdin geht noch weiter. Bei der Präsidentschaftswahl im März will der ehemalige Abgeordnete der Duma den russischen Präsidenten Wladimir Putin herausfordern. Gefallen dürfte das dem Machthaber im Kreml nicht, Nadeschdin wäre der einzige echte Gegenkandidat. Dass er damit durchkommt, ist zwar mehr als fraglich. Dennoch erhält er erstaunlich viel Zuspruch.
Bis Ende Januar hat Nadeschdin noch Zeit, um mindestens 100.000 Unterschriften zu sammeln. Die sind die Voraussetzung dafür, dass der Politiker überhaupt an den Präsidentschaftswahlen Mitte März 2024 antreten könnte. Er will offenbar als "Friedenskandidat" gegen Putin ins Rennen gehen. Theoretisch stehen seine Chancen auf eine Kandidatur nicht schlecht.
Bei der Sammlung der Unterschriften taten sich in Russland ungewöhnliche Bilder auf, wie etwa Medienberichte und Bilder auf Telegram zeigen. Demnach bildeten sich vor dem Büro des möglichen Gegenkandidaten lange Schlangen. Ein 19-jähriger Student sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass für viele Menschen in Russland die Unterschrift für den Oppositionspolitiker die einzige legale Möglichkeit sei, ihre "Unzufriedenheit" zum Ausdruck zu bringen. Und zwar ohne Angst vor einer Festnahme oder Entlassung zu haben.
Ein Blick auf die Webseite Nadeschdins zeigte am Mittwoch, 24. Januar, bereits über 120.000 Unterschriften. Er selbst hatte das Ziel auf 150.000 Unterschriften erhöht. Dazu der Text:
Doch selbst, wenn er die erforderlichen Unterschriften erreicht, ist die Wahrscheinlichkeit für eine Kandidatur gering. Schließlich will er Putin herausfordern. Die zentrale Wahlkommission in Russland würde Nadeschdin als Kandidaten höchstwahrscheinlich nicht genehmigen. Das sagte auch der politische Analyst Fedor Karscheninnikow dem unabhängigen russischen Medium "Meduza".
Das Medium beschreibt nicht nur Meldungen von Unterschriftensammlungen aus verschiedenen Städten Russlands. Sondern auch Berichte darüber, wie Nadeschdins Unterstützer teilweise daran gehindert wurden, Unterschriften zu sammeln. Zu seinen Unterstützern zählt unter anderem der Aktivist Maxim Katz. Er sagte in einem Video: "Er (Nadeschdin) hat von Anfang an die Annexion der Krim verurteilt, er ist gegen den Krieg und scheut sich nicht, darüber zu sprechen."
Auch Iwan Schdanow, der Direktor der Antikorruptionsstiftung von Alexej Nawalny, unterstützt den Gegenkandidaten. Er veröffentlichte die Adressen von Nadeschdins Hauptquartier auf seiner Seite. Am nächsten Tag sprach er sich auf seinem Youtube-Kanal "The Most Important" für Nadeschdin aus. Er beschreibt das Setzen der Unterschrift als eine "ungefährliche Form des Protests". Gleichzeitig betonte er, dass der Kreml höchstwahrscheinlich weiterhin nicht zulassen werde, dass Nadeschdin als Kandidat registriert wird.
Der Analyst Karscheninnikow schrieb auf Telegram, dass Nadeschdin nicht sofort ausgeschlossen worden sei, "weil er völlig hoffnungslos schien. Angesichts der ganzen Aufregung um ihn, bei der es um vom Kreml verabscheute Persönlichkeiten geht, sehe ich keinen Grund, warum sie ihn registrieren würden". Egal, wie viele Unterschriften es gebe oder wie hochwertig sie seien.
Manipuliert wird das Wahlsystem in Russland sowieso, das ist ein offenes Geheimnis und wird von Kritiker:innen immer wieder bemängelt. In Anbetracht der Scheinwahlen ist Putin der Wahlsieg also sicher. Denn die einzigen Gegenkandidat:innen, die zugelassen werden, sind ohnehin keine Oppositionellen.
Putin steht seit 1999 an der Spitze Russlands – mit formeller Unterbrechung von 2008 bis 2012. Das ging nur durch eine historische Verfassungsreform im Jahr 2021. Sie ermöglicht dem Kreml-Chef, bis 2036 zu regieren.