Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul haben die Vereinigten Staaten den Militäreinsatz in Afghanistan nach fast 20 Jahren beendet. Alle US-Truppen hätten das Land verlassen, verkündete General Kenneth McKenzie, der das US-Zentralkommando Centcom führt, am Montag Washingtoner Zeit im Pentagon. Damit endete auch die militärische Mission zur Evakuierung von US-Bürgern, Verbündeten und schutzbedürftigen Afghanen. US-Präsident Joe Biden und US-Außenminister Antony Blinken versprachen, die amerikanische Regierung werde weiter alles daran setzen, zurückgebliebene Amerikaner und andere Schutzsuchende aus dem Land zu holen – nun mit diplomatischen statt mit militärischen Mitteln.
Der letzte US-Militärflieger hob laut McKenzie eine Minute vor Mitternacht Kabuler Zeit vom Flughafen der afghanischen Hauptstadt ab. Biden hatte diesen Dienstag als Stichtag für den Abzug der amerikanischen Truppen gesetzt. Der US-Präsident äußerte sich am Montag zunächst nur in einer schriftlichen Stellungnahme zu dem historischen Moment und kündigte für Dienstag (19.30 Uhr MEZ) eine Ansprache an die Nation an. Er verteidigte erneut seine umstrittene Entscheidung, alle US-Soldaten aus dem Land abzuziehen und verwies unter anderem auf die Sicherheit der amerikanischen Truppen.
McKenzie betonte, es sei kein einziger US-Soldat mehr in Afghanistan. Er räumte aber ein, es sei nicht gelungen, alle Menschen auszufliegen, die man in Sicherheit habe bringen wollen. "Wir haben nicht alle rausgeholt, die wir rausholen wollten." Man habe bis zum letzten Moment die Möglichkeit gehabt, weitere US-Bürger zu evakuieren. Aber einige hätten es nicht zum Flughafen geschafft.
Blinken sagte, nach Einschätzung seines Ministeriums seien noch zwischen 100 und 200 Amerikaner in Afghanistan, die das Land verlassen wollten. Biden hatte allen ausreisewilligen US-Bürgern versprochen, sie aus Afghanistan herauszuholen. Blinken versicherte: "Wir wollen unsere unnachgiebigen Bemühungen fortsetzen, Amerikanern, Ausländern und Afghanen, zu helfen, Afghanistan zu verlassen, wenn sie sich dafür entscheiden." Das sagte auch Biden zu.
Nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August hatten die USA und ihre internationalen Partner begonnen, ihre Staatsbürger sowie afghanische Helfer und andere Schutzbedürftige, die unter der Taliban-Herrschaft um ihr Leben fürchten, außer Landes zu bringen. McKenzie sagte, seit dem Start der militärischen Evakuierungsmission vor gut zwei Wochen habe allein das US-Militär mehr als 79.000 Zivilisten aus Kabul ausgeflogen, darunter rund 6000 Amerikaner. Die USA und ihre Verbündeten hätten gemeinsam mehr als 123.000 Menschen außer Landes gebracht. Biden sprach von der "größte Luftbrücke in der Geschichte der USA".
Die Bundeswehr hatte ihren Rettungseinsatz bereits am Donnerstag beendet, Frankreich, Spanien und Großbritannien folgten am Freitag und Samstag. Immer noch befinden sich aber Zehntausende Menschen in Afghanistan, die vor den Taliban fliehen wollen – bei den meisten davon handelt es sich im Afghanen.
Die USA und die westlichen Partner haben wiederholt betont, dass es auch nach dem Ende der Militärmission die Möglichkeit geben soll, Menschen in Sicherheit zu bringen. Wie genau das geschehen soll, ist unklar. Der UN-Sicherheitsrat erhöhte am Montag den Druck auf die Taliban, die Menschenrechte zu wahren und Ausreisewillige ungehindert passieren zu lassen.
In seltener Einigkeit verabschiedete das mächtigste UN-Gremium am Montag eine entsprechende Resolution. Die Entscheidung fiel mit 13 Ja-Stimmen, Russland und China enthielten sich. UN-Resolutionen sind völkerrechtlich bindend. Zudem fand am Abend noch ein Treffen von Generalsekretär António Guterres mit den Vetomächten des Rates statt – Einzelheiten wurden dazu zunächst nicht bekannt.
Blinken betonte: "Die Militärmission ist beendet. Ein neue diplomatische Mission hat begonnen." Diese wird jedoch aus der Ferne zu steuern sein. Denn mit dem Abzug der US-Truppen gaben die Amerikaner auch ihre diplomatische Präsenz in Afghanistan auf. Man habe die diplomatischen Aktivitäten in die katarische Hauptstadt Doha verlegt, sagte Blinken. Von dort aus wolle man konsularische Angelegenheiten regeln, aber auch humanitäre Hilfe verwalten und die Zusammenarbeiten mit den Verbündeten organisieren.
Mit Blick auf die militant-islamistischen Taliban, die in Afghanistan die Macht übernommen haben, sagte Blinken, eine Regierung unter ihrer Führung müsse sich internationale Legitimität und Unterstützung verdienen. Sie müssten dafür ihre Zusagen zur Reisefreiheit einhalten, Grundrechte respektieren und eine inklusive Regierung bilden. Sie dürften außerdem Terroristen keine Zuflucht gewähren und keine Racheaktionen gegen ihre Kontrahenten ausüben.
Die Taliban reagierten auf den Abzug der Amerikaner mit Jubel. Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid schrieb auf Twitter, das Land habe jetzt die völlige Unabhängigkeit erreicht. Das hochrangige Taliban-Mitglied Anas Hakkani twitterte: "Wir schreiben wieder Geschichte. Die 20-jährige Besetzung Afghanistans durch die USA und die Nato endete heute Abend. Gott ist groß."
Biden hatte im April angekündigt, alle US-Soldaten spätestens bis zum 11. September bedingungslos aus Afghanistan abzuziehen. Dies Datum markiert den 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001, die den US-geführten Militäreinsatz in Afghanistan ausgelöst hatten. Nach Bidens Ansage kündigte auch die Nato an, den von ihr geführten internationalen Einsatz zu beenden. Im Juli zog Biden das Datum für das vollständigen Abzug schließlich auf den 31. August vor.
In den vergangenen Wochen hatten sich die Ereignisse in Afghanistan überschlagen: Nach Bidens Ankündigung gewann der Siegeszug der Taliban rasant an Tempo. Die militanten Islamisten übernahmen eine Provinzhauptstadt nach der anderen – oft leisteten die afghanischen Sicherheitskräfte wenig oder keinen Widerstand. Am 15. August floh der afghanische Präsident Aschraf Ghani ins Ausland, die Taliban marschierten kampflos in Kabul ein. Die US-Botschaft wurde geschlossen, die Diplomaten flohen an den Flughafen.
Von dort aus wickelten die Amerikaner und ihre Verbündeten zuletzt ihre atemlose Evakuierungsmission ab. Der Flughafen in Kabul blieb auch nach der Machtübernahme der Taliban unter Kontrolle der US-Truppen. Die USA flogen vorübergehend 5000 zusätzliche Soldaten ein, um die Evakuierungen abzusichern. US-Kommandeure koordinierten sich dabei mit den Taliban. Bei einem Anschlag der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) am vergangenen Donnerstag wurden vor dem Flughafen Dutzende Afghanen und 13 US-Soldaten getötet. Der IS und die Taliban sind miteinander verfeindet. Noch am Montag griff der IS erneut den Flughafen Kabul an. Nach Angaben der US-Regierung wurden fünf Raketen in Richtung des Airports abgefeuert. Der in Afghanistan aktive Ableger des IS reklamierte den Raketenangriff für sich.
(andi/dpa)