Fast 3000 Menschen starben bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001, die meisten von ihnen im World Trade Center in New York. Die Überlebenden werden 9/11 nie vergessen. Erinnerungen von zwei Betroffenen anlässlich des 20. Jahrestags der Anschläge:
Joseph Dittmar sitzt gerade mit anderen Versicherungsvertretern im 105. Stockwerk des Südturms des World Trade Center, als um 8.46 Uhr ein Flugzeug in den benachbarten Nordturm rast. Im fensterlosen Konferenzraum flackern die Lichter – und bald beginnt die Evakuierung des Südturms. Dittmar sieht erst im 90. Stockwerk, was im Nachbargebäude passiert ist. "Das waren die schlimmsten 30 bis 40 Sekunden meines Lebens", erinnert sich der damals 44-Jährige.
Im Treppenhaus stößt Dittmar auf einen Kollegen. Der will noch rasch auf die Toilette – und wird den Tag nicht überleben. Im 78. Stockwerk ruft eine Kollegin Dittmar zu, er solle den Fahrstuhl ins Erdgeschoss nehmen. Er erinnert sich aber, dass bei Notfällen Fahrstühle tabu sind, und nimmt weiter die Treppen. "Das ist die beste Entscheidung, die ich jemals in meinem Leben getroffen habe."
Dittmar ist zwischen dem 75. und dem 74. Stockwerk, als das Treppenhaus plötzlich "heftig hin- und hergerüttelt wird". Eine zweite entführte Maschine ist einige Stockwerke über ihm in den Südturm gerast. "Die Geländer sind von den Wänden abgerissen, die Stufen unter unseren Füßen haben sich gewellt wie Wellen im Ozean", sagt Dittmar. "Wir spüren diese Hitzewelle und riechen diesen Flugzeugtreibstoff."
Er habe auf seiner Flucht "absolut unglaubliche" Solidarität erlebt, etwa einen Mann, der eine behinderte Frau auf seinem Rücken trägt. Er wird aber auch nie die ihm entgegenkommenden Feuerwehrleute vergessen. "Der Blick in ihren Augen. Sie wussten: Sie gehen nach oben und sie werden nie zurückkehren. Wie kann man so mutig und stark sein?" fragt Dittmar mit Tränen in den Augen.
Dittmar rettet sich aus dem World Trade Center, bevor der Südturm zusammenstürzt. Er sagt, er höre noch heute jeden Tag das Schreien von tausenden verängstigten Menschen in diesem Augenblick. Der 64-Jährige, der sich "9/11" auf den Unterarm hat tätowieren lassen, hat die Geschichte seiner 50-minütigen Flucht hunderte Male erzählt, unter anderem vor Schülern im ganzen Land. "Das ist meine Therapie."
Als Al Kim ohrenbetäubenden Lärm hört, wirft er sich instinktiv unter einen unter einer Brücke geparkten Lieferwagen. "Ich kann nicht glauben, dass ich so sterben werde", denkt sich der 37-jährige Rettungssanitäter, der zum World Trade Center geeilt ist. Es ist 9.59 Uhr, und der Südturm ist gerade inmitten einer gewaltigen Aschewolke eingestürzt. "Ich konnte nicht atmen", erinnert sich Kim 20 Jahre später. "Die Luft war stechend. Ich weiß noch, wie ich mein Hemd benutzt habe, um meinen Mund zu bedecken."
Kim erleidet Verbrennungen im Gesicht und in den oberen Atemwegen. Er hört die Stimmen von Kollegen und kämpft sich mit ihnen gemeinsam durch Dunkelheit und Chaos. "Wir haben uns an den Händen gehalten wie Schulkinder."
In den Trümmern finden die Sanitäter den Feuerwehrmann Kevin Shea, der einen dreifachen Genickbruch erlitten hat. Kim und seine Kollegen bringen den Feuerwehrmann in Sicherheit, nur Minuten, bevor auch der Nordturm in sich zusammenstürzt. Shea ist der einzige Überlebende seines Trupps.
Ansonsten sind Kims Erinnerungen an den 11. September schwammig und bruchstückhaft. "Mein Gedanke war: Das ist das Ende unserer kleinen Welt", sagt der heutige Chef eines Rettungsdienstes in einem New Yorker Vorort. "So weit ich blicken konnte, gab es nur ein Trümmerfeld. Für mich war es in der ganzen Stadt so, und vielleicht noch darüber hinaus."
Kim leidet nach 9/11 jahrelang unter Angstzuständen, kauft sich eine Gasmaske und hat in seinem Auto immer ausreichend Wasser und Nahrung für zwei Wochen. Als "Schildkröte" bezeichnet ihn seine Familie. Doch mit der Zeit kann er die Ängste hinter sich lassen.
Vor drei Jahren kommt Kim beim New Yorker Halbmarathon an einem Stützpfeiler der Brücke vorbei, die ihm an 9/11 das Leben gerettet hat. Er rennt zu dem Pfeiler, umarmt ihn, gibt ihm einen Kuss – und rennt weiter.
(lfr/afp)