watson: Es gibt viele Menschen in Deutschland, die erben. Yannick, du selbst gehörst dazu. Trotzdem hast du ein Buch mit dem Titel "Enterbt uns doch endlich" geschrieben. Warum?
Yannick Haan: Ich habe mich früher nie mit dem Erben auseinandergesetzt. Das Konzept war für mich einfach schon immer da. Als ich geerbt habe, habe ich aber erkannt, was sich dadurch in meinem eigenen Leben verändert hat.
Und zwar?
Ich konnte mir eine Wohnung kaufen und hatte plötzlich viel mehr Geld als mein Umfeld. Unsere Generation geht beim Erben weit auseinander.
Du meinst, dass Erben eine Ungerechtigkeit schafft.
Ich habe mich näher mit dem Erben beschäftigt, gesehen, welche Summen jährlich vererbt werden – wie dadurch Vermögen immer größer und ungerechter verteilt werden. Wir müssen das als Gesellschaft angehen.
Für dein Buch hast du mit Erb:innen und Nicht-Erb:innen sowie Armutsbetroffenen gesprochen. Was hat dich überrascht?
Was mir vorher nicht klar war – obwohl ich die Zahlen kenne – ist, wie stark Menschen von Armut betroffen sind. Und wie schwierig es für sie ist, dort rauszukommen. Dabei geht es nicht nur um das Finanzielle. Es geht auch um familiäre, gesellschaftliche und bildungspolitische Fragen.
Wie meinst du das?
Vereinfacht gesagt: Bei einem Hundert-Meter-Lauf muss ich erst bei 50 Metern starten, Armutsbetroffene starten bei Meter null und haben noch einen Stein an sich gebunden. Ich habe in den Gesprächen aber auch gelernt, dass Erben selbst auch nicht immer nur etwas Positives ist. In diesen Familien dreht sich oft alles nur ums Geld. An das Erbe sind Erwartungen geknüpft.
Würdest du trotz allem, was du bei deinen Recherchen erfahren hast, Deutschland noch einen Sozialstaat nennen?
Wir haben Sozialsysteme, die Menschen auffangen. Wir sind aber nicht gut darin, Menschen eine Chance zu bieten, aufzusteigen. Herkunft spielt mittlerweile leider die entscheidende Rolle.
Mittlerweile?
Die Vermögensungleichheit hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen, die soziale Mobilität wird immer rückläufiger. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich jemand bemüht, daran wirklich was zu verändern.
Wie sieht für dich eine gerechte Welt aus?
Wir müssen über Steuern reden! Wenn wir uns anschauen, wie die Steuern auf Vermögen in den letzten Jahrzehnten abgebaut wurden, hat das vor allem dem reichsten Prozent genützt. Es ist nicht nur die Vermögenssteuer, an die wir ranmüssen, es ist vor allem auch die Erbschaftssteuer.
Da denken viele Menschen an ihr eigenes Erbe, das sie nicht abgeben möchten.
Das Haus von Oma ist eigentlich nicht das, wo die Erbschaftssteuer greifen würde. Aktuell haben wir ab einer Erbschaft von zehn Millionen Euro eine regressive Steuer. Das bedeutet: Je mehr jemand erbt, desto weniger Steuern müssen gezahlt werden.
Das klingt unlogisch.
Daran sieht man, wie ungerecht die Erbschaftssteuer ist. Jene, die Milliarden- und Millionen-Erbschaften haben, zahlen in den meisten Fällen null Prozent Steuern. Es kann nicht sein, dass es wegen eines kaputten Steuersystems eine Verteilung von der Mitte der Gesellschaft nach oben gibt.
Trotzdem gehen bei vielen Menschen Alarmglocken an, wenn sie etwas von Steuererhöhungen hören. Gibt es beim Thema gerechtere Steuern ein Kommunikationsproblem?
Es gibt zwei Probleme: Das Wissen über Steuern ist gering. Viele wollen sich damit nicht befassen und haben deshalb Angst, dass der Staat ihnen das geerbte Haus wegnehmen möchte.
Und das zweite Problem?
Sobald jemand eine solche Forderung stellt, warnen Verbände, dass die deutsche Wirtschaft bei höheren Steuern direkt vor dem Kollaps steht. Das hat mit den Zahlen nichts zu tun: Wenn ein Unternehmen Erbschaftssteuern zahlt, geht deshalb nicht die gesamte Wirtschaft in Knie. Wir sollten uns aber etwas anderes fragen.
Das wäre?
Was ist, wenn viele ihre innovativen Ideen nicht umsetzen, weil sie keine finanzielle Sicherheit haben? Ist das nicht viel dramatischer, für unsere Wirtschaft? Längerfristig schadet uns die Gesellschaft, die wir aufgebaut haben, mehr, als wenn wir die Steuern für die Reichsten erhöhen.
Eine Lösung, die du vorschlägst, ist das Grunderbe. 20.000 Euro zum 18. Geburtstag. Nach dem Gießkannenprinzip für alle?
Die Idee ist verknüpft mit einer höheren Erbschaftssteuer. So könnte eine Umverteilung von den Reichsten in die Gesamtbevölkerung bewerkstelligt werden. Ich finde in diesem Fall auch das Konzept Gießkanne wichtig, weil sich in dieser Altersspanne Ungerechtigkeiten finanzieller Art in besonderer Weise zeigen.
Inwiefern das?
In dieser Lebensphase entscheiden sich Menschen dafür, Praktika im Ausland zu machen – vielleicht auch unbezahlte. Sie machen ein Auslandssemester, studieren. Sie können sich aber entscheiden, etwas ganz anderes zu machen. All das ist leichter mit finanziellen Rücklagen. Das Gießkannenprinzip hat den Vorteil, dass das Grunderbe nicht kompliziert beim Staat beantragt werden muss. Niemand würde ausgeschlossen werden.
Bisher müssen junge Menschen beim Staat als Bittsteller auftreten. Ich denke zum Beispiel an Bafög-Anträge, für die sich die ganze Familie finanziell nackig machen muss.
Es fehlt aktuell an Vertrauen. Ich habe bei meinem Erbe keinen Hinweis bekommen, wofür ich dieses Geld ausgeben muss. Ich möchte, dass dieses Vertrauen allen entgegengebracht wird. Wenn das Geld dann falsch ausgegeben wird, ist es die eigene Verantwortung.
Du schreibst, dass Armut im politischen Prozess kaum gesehen wird. Seit Mai twittern unter dem Hashtag #Ichbinarmutsbetroffen Menschen, die ihre Geschichte erzählen wollen. Kann diese Bewegung etwas an den bestehenden Verhältnissen verändern?
Die Wirkmacht des Hashtags ist es, dass die Leute ihre Geschichte erzählen und sich so ein bisschen von dem Stigma lösen. Durch die Vernetzung wird Sichtbarkeit geschaffen. Dass Armut bedeutet, faul zu sein oder Drogen- und Alkoholprobleme zu haben, hat sich durch die Talkshows der 90er-Jahre verfestigt. Und die ganzen Reality-TV-Formate von heute transportieren diese Klischees weiter. Die Schwierigkeit dürfte aber sein, die Bewegung in eine breite Öffentlichkeit weiterzutragen.
Du hast die Talkshows genannt, in denen Armutsbetroffene klischeehaft dargestellt werden – mit der Darstellung von Reichen geht oft eher eine Glorifizierung einher.
Beim Thema Armut sind wir in den 90er-Jahren steckengeblieben. Es ist sogar noch schlimmer geworden, wenn wir auf die Glorifizierung von Individualisierung und Erfolg blicken. Wir müssen wegkommen von dem Image, dass Selfmade Millionaires, die Elon Musks dieser Welt, die neuen Stars sind. Armut und Reichtum hängen strukturell zusammen.
Inwiefern?
Der Gründer von Amazon kann nur einer der reichsten Menschen sein, weil auf der anderen Seite Ausbeutung stattfindet. Wir müssen als Gesellschaft verstehen, dass das zusammenhängt. Wir können Armut nicht bekämpfen, wenn wir nicht auch Superreichtum bekämpfen. Statt Glorifizierung brauchen wir eine Debatte darüber, ob wir als Gesellschaft Superreichtum wollen. Die Reichen kommen aus Krisen noch reicher raus. Die Armen ärmer. Das ist für mich weder mit dem demokratischen noch mit dem kapitalistischen System, wie es einmal angedacht war, vereinbar.
Das heißt, wir können uns die Reichen nicht mehr leisten.
Weder demokratisch noch klimapolitisch. Eine solche Vermögensungleichheit, wie wir sie aktuell haben, und die Demokratie können nicht lange koexistieren.