Wie viele Menschen werden am Ende gerettet – und wie viele bleiben zurück, unter der Herrschaft der radikalislamischen Taliban? Das ist die Frage, die über den dramatischen Bildern aus der afghanischen Hauptstadt Kabul schwebt. Tausende Menschen drängen sich seit Tagen rund um den Flughafen, den Soldaten der Nato-Staaten bewachen. Sie versuchen, aus dem Land zu kommen.
In Deutschland setzt sich ein Verein dafür ein, dass möglichst viele Ortskräfte den Weg aus Afghanistan heraus schaffen – die Menschen also, die in den vergangenen Jahren die im Land stationierten Bundeswehrsoldaten unterstützt haben: das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte.
watson hat mit Sven Fiedler gesprochen, dem Sprecher des Netzwerks. Fiedler ist Soldat, 30 Jahre alt – und war 2019 im Einsatz in Afghanistan. Wir haben ihn gefragt, wie groß die Hoffnung ist, afghanische Helfer aus dem Land zu bringen – und was ihm die Menschen in Kabul sagen, die mit der Angst leben müssen, von den Taliban erwischt zu werden.
Watson: Herr Fiedler, Marcus Grotian, der Vorsitzende ihres Vereins, hat vor gut einer Woche ein ziemlich aufsehenerregendes Interview im ZDF-"heute journal" gegeben. Er sprach damals von 400 bis 500 Menschen, "denen wir nicht mehr helfen können". Sind Sie heute etwas optimistischer mit Blick auf die Ortskräfte in Afghanistan?
Sven Fiedler: Nicht wirklich. 400 bis 500 Leute erscheint mir fast ein bisschen niedrig gegriffen. Der Großteil der Ortskräfte, die der Bundeswehr geholfen haben, sind im Raum Masar-i-Sharif und Kundus, wo die Bundeswehr hauptsächlich stationiert war. Auf alle Ortskräfte, die es von dort aus nicht nach Kabul geschafft haben, haben wir überhaupt keinen Zugriff mehr.
Sie meinen, Sie haben keinen Kontakt mehr zu diesen Menschen?
Man kriegt nur noch einzelne Mails, in denen Menschen um Hilfe bitten, erzählen, dass die Taliban nach ihnen suchen. Dass sie bedroht, zum Teil aus den Häusern vertrieben und erpresst werden. Bevor die Taliban dort ankamen, haben wir mit den Ortskräften regelmäßig telefoniert, Mails oder Nachrichten auf Facebook ausgetauscht. Das geht jetzt nicht mehr. Deswegen ist es für uns schwer zu sagen, wie viele Ortskräfte überhaupt in Kabul sind – und damit überhaupt eine Chance haben, evakuiert zu werden. Ich glaube, wir reden von 500 Menschen, mit denen wir nie wieder Kontakt aufnehmen können werden.
Was kann getan werden, um diesen Menschen, die jetzt von der Außenwelt abgeschnitten sind, zu helfen?
In unseren Augen geht das nur über den diplomatischen Weg. Die Bundesregierung – oder wer auch immer sich verantwortlich fühlt für diese Menschen – sollte den Taliban sagen: "Passt auf, wir haben hier folgende Menschen, die wir gesund und sicher nach Deutschland bringen wollen. Sagt uns, was ihr dafür haben wollt – zum Beispiel Entwicklungshilfen – und wir zahlen das. Ihr bringt uns die Leute zum Flughafen nach Masar-i-Sharif und wir holen sie ab." Alles andere, etwa mit Helikoptern dorthin zu fliegen, halten wir für unrealistisch.
Das Verteidigungsministerium meldet, Stand Montagmorgen, dass mehr als 2700 Menschen mit deutschen Evakuierungsflügen aus Afghanistan gebracht worden sind. Wissen Sie, wie viele davon Ortskräfte der Bundeswehr sind?
Nein. Dazu gibt es keine offiziellen Zahlen, soweit wir wissen. Wir haben von einzelnen Ortskräften gehört, dass sie jetzt ausgeflogen werden – und von anderen, dass sie in Deutschland sind. Die Menschen, die in Deutschland angekommen sind, erreichen wir dann oft tagelang erstmal nicht mehr.
Warum das?
Die Menschen haben in ihren Handys meistens afghanische SIM-Karten. Das heißt, sie können mit uns in Verbindung bleiben, bis sie aus Afghanistan raus sind. Aber sobald sie in Deutschland sind, haben wir meistens ein, zwei Wochen lang keinen Kontakt. Solange, bis die Leute wieder auf ihre Accounts in den diversen Kommunikationsapps zugreifen können.
Wie viele Ortskräfte sind jetzt noch vor Ort, die aus Ihrer Sicht dringend aus Afghanistan rausmüssen?
Schwer zu sagen. Wir haben Listen von ungefähr 2000 Leuten, die sich bei uns gemeldet haben und ausgeflogen werden möchten. Für uns ist es superschwer nachzuvollziehen, wer schon ausgeflogen wurde und wer nicht. Auch, weil das Verteidigungsministerium und das Auswärtige Amt ihre Listen nicht mit unseren abgleichen. Wir melden den Ministerien die Daten, bekommen aber kein Feedback.
Sie hören überhaupt nichts vom Auswärtigen Amt?
Ab und zu kommt eine Mail, dass einzelne Personen aufgenommen wurden oder nicht. Im Großen und Ganzen bekommen wir aber keine Rückmeldung.
Wie sehr frustriert Sie das?
Es ist einfach unverständlich. Wir haben mit so vielen Menschen in Afghanistan Kontakt und haben immer angeboten, dass wir diese Kontakte nutzen können. Wir haben auch andere Lösungsmöglichkeiten, die uns Menschen vor Ort gemeldet haben, angeboten. Aber darauf will keiner im Auswärtigen Amt eingehen. Ich finde das ein bisschen komisch, weil man ja momentan sieht, dass es so, wie es andere Stellen planen, nicht funktioniert. Der Punkt ist: Mit uns redet keiner von der Bundesregierung so richtig.
Hat Ihnen jemand zumindest erklärt, warum man auf Ihre Angebote nicht eingeht?
Nein. Ich weiß auch nicht, warum das so ist.
US-Präsident Joe Biden hat gesagt, dass Soldaten der US-Armee eventuell länger vor Ort bleiben könnten, um die Evakuierung gefährdeter Menschen weiter zu sichern. Aus Deutschland gibt es Forderungen, den Bundeswehreinsatz entsprechend zu verlängern. Wie lange dauert es aus Ihrer Sicht, um alle gefährdeten Menschen rauszuholen?
Schwer zu sagen. Allein deshalb, weil wir nicht genau wissen, wer überhaupt noch in Kabul ist und wer schon ausgeflogen wurde. Die Situation am Flughafen verschlimmert sich weiter, es gibt Berichte über geplante Anschläge der Terrormiliz "Islamischer Staat". Um alle Menschen auszufliegen, die dazu berechtigt sind, müsste man erstmal ein System entwickeln, wie man die Leute überhaupt zum Flughafen bekommt und dort identifiziert. Es ist momentan aber nicht abzuschätzen, wie das klappen soll.
Was sagen Ihnen momentan die ehemaligen afghanischen Ortskräfte, die noch in Kabul sind?
Die haben alle wahnsinnige Angst. Wir hören immer wieder, dass die Taliban auch in Kabul von Tür zu Tür gehen und bestimmte Personengruppen suchen. Familien mit Kindern trauen sich eigentlich nicht mehr zum Flughafen – aus Angst um ihre Kinder, weil am Flughafen viele Leute mit Gewalt versuchen, durchzukommen. Darunter sind auch Menschen, die gar keine Ortskräfte waren, sondern einfach ins Ausland wollen. Und wir hören von Leuten, die zwar vom Auswärtigen Amt angerufen und aufgefordert worden sind, zum Flughafen zu kommen – die dort dann aber ein- oder zweimal abgewiesen worden sind. Die sagen jetzt, sie gehen erst wieder zum Flughafen, wenn die Lage sich beruhigt hat.
Was kann jetzt getan werden, um die Menschen in Kabul sicher an den Flughafen zu bringen?
Das ist die große Preisfrage, die gerade alle versuchen, irgendwie zu lösen. Es stehen gerade bis zu 10.000 Menschen vor den Toren des Flughafens in Kabul. Alle wollen rein. Und wenn sich Menschen aus Verzweiflung an startende Flugzeuge klammern, dann werden die sich auch an startende Hubschrauber klammern, die man vielleicht nach Kabul in die Stadt schickt, um Menschen anderswo rauszuholen. Ich glaube einfach, dass man einfach viel zu spät gehandelt hat. Deswegen gibt es jetzt kaum mehr Handlungsoptionen.
Sie meinen, momentan gibt keine wirklich gute Lösung, um möglichst vielen Menschen zu helfen.
Aus meiner Sicht nicht. Man könnte vielleicht Absprachen mit den Taliban suchen und dann die Straße räumen lassen für die Menschen, die berechtigt sind, auszufliegen. Aber ich weiß auch nicht, wie das funktionieren soll.
Die Führung der Taliban will gerade den Eindruck erwecken, sie werde in Afghanistan viel mehr Freiheiten garantieren als während der letzten Taliban-Regierung von 1996 bis 2001. Glauben Sie diesen Versprechungen?
Man muss das differenziert betrachten. Bei manchen Versprechungen gibt es Gründe, nicht direkt abgeneigt zu sein. Andererseits hören wir aus den von den Taliban besetzten Provinzen von Hinrichtungen, Folter und Erpressung. Ich denke, im Großen und Ganzen hat sich die Gruppierung nicht sehr verändert.
Was tut Ihr Verein, das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte, wenn Sie die Namen gefährdeter Ortskräfte erfahren? Was machen Sie konkret, um den Menschen zu helfen?
Bei Menschen, die in Kabul sind, fassen wir alle notwendigen Daten zusammen: die persönlichen Daten, die Kontaktdaten – und leiten sie an die zuständigen Ministerien weiter. Mehr können wir für die Menschen, die noch in Afghanistan sind, leider gerade nicht tun.
Wie viel Arbeit kostet Sie das?
Seit die Taliban Kabul erobert haben, sitze ich jeden Abend bis zwei, drei Uhr dran: an den digitalen Aufgaben, an der Seelsorge. Viele ehemalige afghanische Ortskräfte sind ja schon in Deutschland. Sie wenden sich an uns, um Verwandten aus dem Land zu helfen. Wir versuchen einfach, ihnen zu antworten, damit sie sich nicht von der deutschen Gesellschaft im Stich gelassen fühlen.
Machen Sie das nach Feierabend, neben einem Vollzeitjob?
Genau.
Wie groß ist das Team des Patenschaftnetzwerks?
Der harte Kern, der den Großteil der Fälle bearbeitet, das sind fünf Leute.
Sind das alles Ehrenamtliche?
Ja, zusätzlich dazu können wir durch Spenden zwei Sozialarbeiter finanzieren. Die kümmern sich um die Ortskräfte, die in Deutschland angekommen sind. Und wir haben eine ganze Menge Paten, die sich vor Ort um sie kümmern, um ihnen den Start in Deutschland zu erleichtern.
Macht Ihnen angesichts der Lage in Afghanistan irgendetwas Hoffnung?
Dass die Taliban die westlichen Kräfte nun doch nicht vom Flughafen weggeschossen haben, das zeigt zumindest, dass man die irgendwie diplomatisch erreicht hat. Und das macht uns Hoffnung, zumindest einen Teil der Menschen retten zu können.
Wie groß ist die Bereitschaft der Menschen in Deutschland, Ihrem Verein zu helfen?
Die Anteilnahme und die Hilfsbereitschaft sind sehr groß. Wir bekommen jeden Tag bestimmt 50 E-Mails von Leuten, die irgendwie helfen wollen. Und viele Spenden. Offensichtlich empfinden viele Menschen es als ungerecht, dass wir die afghanischen Ortskräfte so leiden lassen.