New York ist der Brennpunkt des Corona-Ausbruchs in den USA. Das Virus wütet derart heftig in der Millionen-Metropole, dass traditionelle Beerdigungen nicht mehr möglich sind, um die Toten zu bestatten. Auf Hart Island heben Behörden daher ein Massengrab aus. Insgesamt verzeichnete New York bislang rund 7000 Coronavirus-Tote.
Nils Hennig erlebt den Corona-Ausbruch in New York an vorderster Front. Der deutsch-amerikanische Arzt ist am Mount-Sinai-Krankenhaus tätig. Im Interview mit watson berichtet der Experte für Infektionskrankheiten von der aktuellen Lage in New York.
watson: In Deutschland entsteht aktuell ein Bild von kriegsähnlichen Zuständen in New York. Ist dieses Bild zutreffend?
Nils Hennig: Nein. Die Lage ist schwierig, aber wie im Krieg ist der Zustand sicher nicht. Die Amerikaner, die seit dem Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten keinen Krieg im eigenen Land erlebt haben, reden gerne von Krieg. War on drugs, war on crime, war on cancer. Aber wer wirklich Krieg erlebt hat, der weiß, dass das etwas ganz anderes ist. Ich habe in Liberia, in Sierra Leone, in Uganda, in Angola in Bürgerkriegen gearbeitet – und es ist nicht vergleichbar.
Aber dramatisch scheint die Lage in New York dennoch zu sein.
Die Situation in New York ist nicht einfach. Viele Patienten sterben – in den letzten Tagen starb ungefähr alle zweieinhalb Minuten ein Mensch in New York State. Das ist sehr schlimm. Aber nein, es sind keine kriegsähnlichen Zustände in New York. Es werden nicht systematisch Krankenhäuser bombardiert wie in Syrien, es finden keine Massenvergewaltigungen statt wie im Kongo, es gibt keine abgeschlagenen Gliedmaßen wie in Sierra Leone, keine massenhaften Gräueltaten wie in Liberia oder Ex-Jugoslawien, keine Verschleppung und Rekrutierung von Kindern wie in Uganda, Liberia, Sierra Leone und so weiter.
Der unbedachte Gebrauch des Wortes Krieg führt zur Inflation des Begriffes. Wir erleben eine Ausnahmesituation, die aber mit Krieg nichts zu tun hat.
Welche weitere Entwicklung erwarten Sie?
Da muss man immer vorsichtig sein. Seit etwa drei Tagen halten sich die Patienten, die wir neu aufnehmen, und die, die wir gesund entlassen, etwa die Waage, nachdem es zuvor viel schlimmer gewesen ist. Das könnte ein gutes Zeichen sein. Das sind aber nur die Neuaufnahmen.
Das bedeutet?
Die wirklich schweren Verläufe und die Todesfälle hinken immer etwas hinterher. Das heißt, einen Rückgang der Todesfälle sehen wir wahrscheinlich erst in ein bis zwei Wochen. Bis dahin werden die Zahlen vermutlich weiter steigen.
Gilt das nur für New York oder für die USA insgesamt?
Nur für New York. Der Rest des Landes hinkt hinterher. Auf den Großteil des Landes kommen die großen Fallzahlen noch zu.
Woran liegt das, dass es New York als Erstes getroffen hat?
Neue Studien legen nahe, dass das Virus in den USA aus Europa kam, nicht aus Asien. Und viele Flüge sind eben hier in New York gelandet. Deshalb sind die Leute hier zuerst infiziert worden. Die haben es dann erst in die anderen Landesteile getragen.
Trotzdem ist New York nach wie vor das Zentrum der Pandemie in den USA. Wie gehen die Menschen dort mit der Situation um?
Im Großen und Ganzen gut. Es gibt viel Solidarität.
Inwiefern?
Restaurants bringen Essen zum Krankenhaus. Hotels lassen unser Klinikpersonal kostenlos Hotelräume benutzen, um sich auszuruhen. Man hält sich größtenteils an das Social Distancing. Sehr problematisch ist es für die Tagelöhner, denen das Einkommen weggebrochen ist. Auch die Foodbanks, in etwa vergleichbar mit den Tafeln in Deutschland, haben Probleme, dem Bedarf nachzukommen. Aber auch hier gibt es viel Hilfsbereitschaft.
Allerdings führt Social Distancing auch zu einer ungewohnten Traurigkeit: Pessach und Ostern müssen virtuell gefeiert werden. Viele haben Familie, Bekannte und Freunde, die von Covid-19 betroffen sind – die auf der Intensivstation liegen oder gestorben sind. Es ist schwierig, Trost zu spenden, besonders in Kulturen, wo es dazugehört, sich in den Arm zu nehmen.
Auch in der Politik stellt das Coronavirus alles auf den Kopf. Wie beurteilen Sie Trumps Krisenmanagement?
Zu wenig, zu spät. Das Wahljahr macht es besonders problematisch. Er hat es lange kleingeredet. Jetzt ähneln seine Pressekonferenzen Wahlkampfveranstaltungen, es gibt viel Selbstlob zu hören. Reflexion, um aus Fehlern zu lernen, fehlt dagegen.
Was hätte denn geschehen müssen?
Man hätte früher testen müssen, um die strikte Isolation von Fällen und Quarantäne von Kontakten umsetzen zu können. So wäre die jetzige Situation zu verhindern gewesen. Fairerweise muss man allerdings sagen, dass Trump mit seinem Verhalten nicht allein ist. Der Gouverneur von New York State, Andrew Cuomo, und Bürgermeister Bill De Blasio haben Covid-19 ebenfalls viel zu lange kleingeredet und es verpasst, Maßnahmen zu ergreifen, als es vonnöten war.
Die Situation geriet so außer Kontrolle. Welche Maßnahmen braucht es denn zum jetzigen Zeitpunkt, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen?
Wie gesagt: Tests, Isolation und Quarantäne. Solange man das nicht machen kann, breitet sich das Virus weiter unkontrolliert aus. Natürlich muss man auch die Bevölkerung mobilisieren, dass sie sich an das Social Distancing hält, natürlich muss man auch weiter forschen und hoffen, dass es bald einen Impfstoff gibt.
Das kann aber noch einige Monate dauern. Sind die Kapazitäten des Mount-Sinai-Krankenhauses bis dahin nicht längst ausgereizt?
Die normalen Kapazitäten sind schon lange ausgereizt. Aber man passt sich der Situation an. Wir bauen überall Betten auf. Auch im Central Park und in den Kirchen in der Nachbarschaft. Alles Personal wird rekrutiert, um im klinischen Betrieb zu helfen. Beatmungsgeräte und Schutzkleidung werden organisiert. Es ist eine schwere Situation für das Personal, aber wir arbeiten und versuchen, der Herausforderung gerecht zu werden.
Sie sprechen vom Krankenhaus, in dem Sie arbeiten. Kennen Sie denn die Situation in anderen Kliniken?
Von Kollegen, ja. Gerade in der Bronx, in Brooklyn und in Queens ist die Situation extrem schwierig. Dort gibt es Engpässe mit Schutzkleidung und Dialyse-Geräten und Sorgen, ob die Beatmungsmaschinen ausreichen. Die Kollegen sind erschöpft.
Kein Wunder, Corona ist ein neuartiges Virus, das für medizinisches Personal weltweit eine riesige Belastung darstellt. Wenn Sie die Behandlung von Corona-Patienten mal mit der von Grippe-Kranken vergleichen – was fällt Ihnen da auf?
Ich bin Kinderarzt. Bei Kindern ist der Verlauf nicht so schwer wie bei den Risikogruppen. Ich habe mehr wirklich schwere Grippefälle bei Kindern gesehen als schwere Covid-19-Fälle. Bei Älteren verschlechtert sich die Lage bei Covid-19 allerdings sehr schnell. Kollegen beschreiben Todesfälle in der Notaufnahme, bei Patienten, die kurz zuvor noch stabil wirkten. Und Patienten sterben zu Hause, was sonst ungewöhnlich ist.
Für Sie als Arzt muss es besonders schwierig sein, wenn Sie Patienten nicht richtig behandeln können. Wie gehen Sie persönlich mit dieser Situation um?
Wir können die Patienten behandeln. Allerdings nur mit unterstützenden Maßnahmen. Aber das ist so bei vielen Krankheiten, nicht nur bei Covid-19. Persönlich achte ich darauf: One patient at a time. Wir müssen das Individuum immer im Zentrum unserer Arbeit behalten.
140.000 Infizierte in New York sind natürlich erst einmal überwältigend. Aber man sieht das Individuum, dem man helfen kann. Eine 65-jährige Großmutter, die hoffentlich wieder auf die Beine kommt und mit ihren Enkelkindern spielen kann. Bei all den Zahlen vergisst man ja auch, dass die große Mehrzahl der Patienten das Krankenhaus wieder gesund verlässt.
Damit auch das Personal selbst gesund bleibt, braucht es Schutzausrüstung. Diese ist in diesen Tagen ein heiß begehrtes Gut und führt angeblich zu Streitereien zwischen der Stadt Berlin und der US-Regierung. Können Sie die Vorwürfe der Berliner Regierung verstehen?
Ich habe davon gehört, allerdings kenne ich den Sachverhalt nicht gut genug, um ihn zu kommentieren. Ich habe ähnliche Vorwürfe von der Schweiz Richtung Deutschland gehört. Klar ist jedenfalls: Die jetzige Situation erfordert internationale Solidarität und Zusammenarbeit, keine nationalen Alleingänge.
Wie ist denn die Situation mit Schutzkleidung in New York?
Die eine Situation gibt es nicht. Im Krankenhaus Mount-Sinai, in dem ich arbeite, war die Situation zwar knapp, aber letztlich hatten wir immer genug. Einmal hatten wir nur noch Reserven für zwei Tage, aber dann hat George Soros, der Investor, uns Material aus China einfliegen lassen. Die Situation hat sich insgesamt verbessert.
Dieses Glück hat vermutlich nicht jede Klinik...
Das Problem ist natürlich, dass jedes Krankenhaus auf sich allein gestellt war. Wir hatten gute Verbindungen, die konnten wir spielen lassen, bevor es ganz schlimm gekommen wäre. In anderen Krankenhäusern sieht die Situation anders aus. Sie verbessert sich zwar gerade, aber vor allem in den ärmeren städtischen Krankenhäusern ist sie viel schwieriger. Da werden Masken teilweise den ganzen Tag getragen, statt sie nach einer Benutzung wegzuwerfen.
Sie befürchteten kürzlich in einem Interview, Deutschland stünden ähnliche Zustände ins Haus wie den USA. Wie sehen Sie das heute, ein paar Wochen später?
Deutschland war offensichtlich besser vorbereitet. Das deutsche System hat viel mehr Betten pro Patienten. Die Kapazität ist einfach höher, Amerika arbeitet immer sehr eng an der Grenze. Deshalb gibt es in Deutschland mehr Spielraum, wenn so eine Epidemie kommt. Das ist der eine Grund.
Und der andere?
Man hat früher reagiert und viel früher viel mehr getestet. So kann man hoffentlich das Schlimmste vermeiden. Deutschland war eines der ersten Länder, das einen Test entwickelte, und diesen auch zügig und umfangreich angewendet hat. Dadurch konnte es viel mehr Infizierte isolieren und für Kontakte Quarantäne verhängen – das hat New York verpasst.
Hat das auch etwas mit den unterschiedlichen Gesundheitssystemen zu tun?
Die meisten Versicherungen in Amerika sind privat. Und die privaten Versicherer sind in erster Linie ihren Anlegern verpflichtet, das heißt, sie müssen Geld abwerfen. Zwar sind durch Obamacare tatsächlich viel mehr Leute versichert, aber viele kaufen eben nur die billigste Versicherung. Und die haben immer noch einen sehr hohen Eigenanteil.
Das heißt, Arztbehandlungen sind für viele immer noch zu teuer?
Studien sagen, dass 33 Prozent der Patienten in Amerika nicht zum Arzt gehen, weil sie Angst haben, den Eigenanteil nicht bezahlen zu können. Dadurch ist hier in Amerika der allgemeine Gesundheitsstand der Bevölkerung schlechter als in Deutschland. Die USA stehen unter den entwickelten Ländern überhaupt schlecht da, ich glaube, auf Platz 23. Es gibt da verschiedene Ranglisten von der WHO.
Dementsprechend gibt es viel mehr Vorerkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck, die zu einem schweren Verlauf von Covid-19 führen können. Deshalb müssen in Amerika auch viel mehr Leute ans Beatmungsgerät.
Was raten Sie Deutschland denn im weiteren Vorgehen?
Bleibt auf der Hut. Und etabliert eine einheitliche Vorgehensweise. Macht Millionen von Tests, isoliert die positiv Getesteten und steckt ihre Kontakte in Quarantäne. Stattet das Gesundheitspersonal mit Schutzkleidung aus und die Krankenhäuser mit genug Kapazitäten für Intensivpatienten. Mobilisiert die Bevölkerung.
Lernt immer dazu, durch Echtzeit-Forschung bei der Behandlung. Und: Hört auf, kümmert euch um und unterstützt das medizinische Personal.
Worüber in Deutschland gerade auch intensiv diskutiert wird, sind Handy-Apps zur Bekämpfung von Corona. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Schritt?
Es ist zwar nicht mein Fachgebiet, aber so wie sich das anhört, macht die App ja genau das, was ich gerade beschrieben habe. Deswegen ja, das hört sich sehr gut an.
Hier in Deutschland wird der Datenschutz-Aspekt dabei aber sehr kritisch gesehen. Wie wird das in den USA diskutiert?
Deutschland hat ja im Vergleich zu anderen Ländern einen sehr guten Datenschutz. Und wenn so eine App in einem Land mit gutem Datenschutz funktionieren kann, wäre das ja im Grunde sehr ermutigend. In New York können wir davon leider noch nicht sprechen, hier ist der Zug bezüglich Tests erstmal abgefahren.
Was heißt das?
Hier geht es zurzeit wirklich erstmal darum, dass nicht mehr Leute sterben als nötig. Solange wir noch Zelte im Central Park haben, ist es noch zu früh, über solche anderen Sachen zu sprechen. Vorher muss der Krankenhausbetrieb wieder normal sein. Also, in New York – nicht in den anderen Landesteilen. Dort sollte man testen, isolieren und Quarantäne verhängen, und eine Handy-App könnte helfen.
Würden Sie lieber in einem deutschen Krankenhaus arbeiten als in den USA?
Als Arzt arbeite ich, wo ich gebraucht werde. Und das ist zurzeit hier in New York. Das ist mein Zuhause.